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       # taz.de -- Umstrittene Diagnose Onlinesucht: Verschollen im Cyberspace
       
       > Machen Onlinespiele, soziale Netzwerke und Pornoseiten süchtig?
       > Psychologen und Ärzte streiten sich, ob ständiges Online-sein abhängig
       > macht.
       
   IMG Bild: Melden sich häufig wegen Sucht: männliche Online-Rollenspieler.
       
       Alexander Groppler traute seinen Augen nicht. Als der Psychologe auf einer
       Tagung einem Vortrag zuhören wollte, sah er viele seiner Kollegen im
       Internet surfen. Sie twitterten, schauten sich Facebook-Profile an oder
       schrieben E-Mails. Dabei sollten doch gerade Psychologen aufmerksame
       Zuhörer sein. Dachte sich Groppler.
       
       Groppler therapiert seit Jahren Medienabhängige an den Helios-Kliniken
       Schwerin. Er kennt Jugendliche, die 14 Stunden am Tag Computer spielen und
       wegen Schlafentzug und anderer Beschwerden in der Klinik landen. Alexander
       Groppler kennt Erwachsen, die sich in Onlinespielen, Chatrooms und auf
       Pornoseiten verloren haben.
       
       „Das ständige Sehen und Gesehenwerden, das Zurschaustellen des eigenen
       Lebens, das Facebook ermöglicht, ist für viele Nutzer unglaublich
       attraktiv. Dem User werden in dem Netzwerk immer mehr Angebote gemacht, und
       so will und muss er immer wieder sein Profil und andere Profile aufrufen.
       Das finde ich schon gefährlich“, sagt der Psychologe Groppler der taz.
       
       Die Zahl der Facebook-User steigt täglich. Fast 24 Millionen Menschen
       surfen in Deutschland in dem sozialen Netzwerk. Facebook ist Teil des
       Alltags geworden. Im Café, in der U-Bahn, während der Arbeit oder mitten
       auf der Straße: Mit Internetfähigen Smartphones kann immer und überall
       gechattet und gepostet werden. In der Vorlesung werden neue Freunde
       hinzugefügt, während des Urlaubs werden Fotos auf die Seite gestellt.
       
       ## Browsergames „gleichen dem Glücksspiel“
       
       Offiziell sind laut einer Studie im Auftrag des Drogenbeauftragten 560.000
       Menschen onlinesüchtig – weil sie zwanghaft stundenlang im Netz sind.
       Inoffiziell sprechen Experten von etwa 2 Millionen Betroffenen in
       Deutschland. Renommierte Ärzte und Psychologen glauben, dass die
       Chatfunktionen und Browsergames, die Facebook anbietet, sehr verlockend
       seien und dass das Netzwerk so eine Medienabhängigkeit fördern oder sogar
       anschieben könne.
       
       Gerade die Browsergames, endlos spielbar und am Anfang kostenlos, sind
       vielen Psychiatern ein Dorn im Auge. „Diese Spiele arbeiten mit dem
       Belohnungssystem. Belohnt zu werden und mit anderen Usern in Kontakt zu
       treten, gleicht dem Glücksspiel und kann süchtig machen“, sagt der
       Psychiater Bert te Wildt vom Fachverband für Medienabhängigkeit. Der große
       Mann mit dem kahlen Kopf und der ruhigen Stimme beobachtet in den letzten
       Jahren, dass Menschen durch massiven Internetkonsum „im engeren Sinne
       psychisch krank werden können“.
       
       Das liege vor allem daran, dass das Netz ungeheuer mächtig werde, indem es
       alle analogen Medien in sich vereine und alle Menschen miteinander in
       Verbindung treten lasse, meint Psychiater te Wildt vom Universitätsklinikum
       in Bochum.
       
       Das Netz wird unumgänglich. Alles ist heute online möglich, shoppen,
       arbeiten, Sex – und eben auch der soziale Kontakt. Facebook ist noch ein
       sehr junges Angebot. Es gibt noch keine wissenschaftliche Datenlage. Doch
       in Sprechstunden von Psychologen und Ärzten ist das Netzwerk immer wieder
       Thema.
       
       ## Meistens männliche Onlinerollenspieler
       
       Die Menschen, die bei Facebook immer wieder Aufmerksamkeit brauchen,
       ständig Bestätigung und neue Kontakte suchen, sind oft Frauen um die 30,
       weiß Jannis Wlachojiannis. Der Sozialpädagoge betreut Computerspiel- und
       Internetsüchtige in der Berliner Beratungsstelle „Lost in Space“. Die
       meisten seiner Klienten sind Onlinerollenspieler, Männer in jungem
       Erwachsenenalter.
       
       Doch pro Jahr kommen auch etwa 20 junge weibliche Klientinnen in seine
       Sprechstunde. Sie seien anfälliger für soziale Netzwerke und Chatrooms als
       Männer. „Frauen suchen stärker den sozialen Kontakt. Durch Angebote wie
       Facebook wird ihnen genau das wesentlich erleichtert. Sie können dort
       besser mit Zurückweisung umgehen und sich einfacher Bestätigung holen“,
       erklärt Jannis Wlachojiannis.
       
       Die jungen Frauen, die der Mann mit den griechischen Wurzeln betreut, seien
       stark verunsichert, hätten in vielen Lebensbereichen Probleme und wenige
       Freunde im realen Leben. Es gebe schon eine Zielgruppe, die mit Facebook
       ein Verhalten entwickeln kann, das dann abhängig mache, meint
       Wlachojiannis. „Dem Netzwerk die Schuld für eine Sucht zu geben, ist aber
       absolut nicht richtig. Der Mensch entwickelt auch bedingt durch seine
       Persönlichkeit und durch seine Umwelt eine Abhängigkeit“, erklärt der
       Sozialpädagoge.
       
       Wenn das Surfen zum Lebensmittelpunkt wird und für den Betroffenen und
       seine Angehörigen Leid entsteht, ist die Sucht da. Dann versuchen
       Therapeuten in Gesprächen, dass sich Onlineabhängige wieder für eine echte
       Welt öffnen können, sozial integriert werden und Hobbys entwickeln.
       
       ## Wie Buch und Telefon
       
       Der Psychiater Bert te Wildt warnt jedoch vor allgemeiner Panikmache. „Man
       hat jedem neuen Medium zunächst ein Suchtpotenzial zugesprochen, selbst dem
       Buch und dem Telefon“, sagt er. Ohne seine integrierten Spiele würde
       Facebook vermutlich nicht abhängig machen, da man ein reales Leben und
       reale Bezugspersonen braucht, um dort erfolgreich zu sein, und genau das
       schützt eben vor einer Medienabhängigkeit, argumentiert te Wildt.
       
       Die meisten von der taz befragten Fachleute sind sich einig, dass das
       Verhalten jedes Einzelnen im Netz auch ein Spiegel des eigenen Ichs ist.
       Wer sich in Chatrooms, Netzwerken und auf Pornoseiten verliere, hätte schon
       vorher große Probleme im Leben gehabt, die sich dann nur noch verstärken
       würden.
       
       Verhaltenssüchte wie Kauf-, Sex- oder Spielsucht verlagerten sich immer
       mehr ins Internet, wo sich ihre Eigendynamik beschleunige, meint der
       Psychiater Bert te Wildt.
       
       Gabriele Farke ist sich sicher: „Facebook macht nicht süchtig und ist auch
       kein Suchtmittel.“ Die engagierte Frau betreut seit Jahren die Webseite
       [1][onlinesucht.de]. Sie war in den neunziger Jahren mit ihrer Homepage die
       erste Anlaufstelle für Internetabhängige. Betroffene können sich hier in
       Foren austauschen und nach therapeutischer Hilfe suchen. Die Nachfrage ist
       ungebrochen hoch. Die Seite verzeichnet in einem Jahr etwa 8 Millionen
       Besucher. Seit es Facebook gibt, soll sich die Anzahl der Hilfesuchenden
       allerdings nicht erhöht haben.
       
       ## „Die Sucht geht vom Menschen aus“
       
       „Die Sucht geht vom Menschen und nicht vom Medium aus. Es liegt immer an
       dem User selbst, wie er mit einem neuen Internetangebot umgeht“, sagt
       Gabriele Farke der taz. Die meisten Betroffenen, die Farke aus den Foren
       kennt und auch berät, sind süchtig nach Pornoseiten. 10 Prozent der
       Menschen, die auf ihrer Webseite nach Rat suchen, glauben hingegen,
       abhängig vom Chatten zu sein. Dabei handelt es mehrheitlich um junge
       Frauen, für die dann auch Facebook ein Problem darstellt.
       
       Nicht nur Gabriele Farke beobachtet, wie sich immer mehr Lebensbereiche ins
       Internet verlagern. Die Arbeit, die Partnersuche, das Kommunizieren. Immer
       mehr findet vor dem Computer und weniger face-to-face statt. „Das ist doch
       auch sehr praktisch und hat unglaublich viele Vorteile“, meint die Frau,
       die Bücher über Onlinesucht schreibt und in Talkshows auftritt.
       
       „Jeder, der einen gesunden Menschenverstand und ein soziales Umfeld hat,
       wird keine Onlinesucht entwickeln“, sagt Gabriele Farke überzeugt. Sie
       kennt eben genügend Schicksale.
       
       11 Jul 2012
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://onlinesucht.de
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Gehrke
       
       ## TAGS
       
   DIR Internet
       
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