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       # taz.de -- Debatte zu Pflegeversicherung: Die neuen Körperklassen
       
       > Mit vollen Windeln zu lange im Bett: Die Pflegefrage berührt Tabuzonen in
       > der Leistungsgesellschaft. Der „Pflege-Bahr" verstärkt die Schieflage.
       
   IMG Bild: Kommt jemand, um zu helfen, wenn die Klingel gedrückt wird? Das ist die entscheidende Frage.
       
       So viel Misserfolg war selten. Vor „schwer kalkulierbaren“ Tarifen warnt
       die Versicherungswirtschaft. Geringverdiener blieben außen vor, rügen die
       Gewerkschaften. Die geplante Pflegezusatzversicherung von
       Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) stößt bei Wirtschaft und
       Sozialverbänden auf Skepsis und Ablehnung. Die staatlich geförderte
       Zusatzvorsorge soll die Finanzierung der Pflege verbessern, doch sie wirft
       erst recht ein Schlaglicht auf die ungelösten Gerechtigkeitsfragen, die
       sich in der Versorgung Älterer stellen.
       
       Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) möchte Policen für eine private
       Pflegezusatzversicherung mit monatlich 5 Euro staatlich bezuschussen, wobei
       ein Eigenbeitrag des Versicherten geleistet werden muss. Diese freiwillige
       Zusatzversicherung, auch „Pflege-Bahr“ genannt, soll im Bedarfsfall den
       BürgerInnen helfen, Zahlungen aus der bisher schon bestehenden allgemeinen
       Pflegeversicherung privat zu ergänzen.
       
       Was gut klingt, dürfte soziale Schieflagen verstärken: zwischen denjenigen,
       die sich die Prämien für die Zusatzversicherung leisten können, und jenen,
       die einfach zu wenig Geld zur Verfügung haben. Daran ändern auch die 5 Euro
       staatlicher Förderung im Monat wenig. Denn Zusatzversicherungen kosten
       ordentlich Geld.
       
       Eine 50-jährige Frau, die in der Pflegestufe II bei ambulanter Versorgung
       ergänzend monatlich 600 Euro zur Verfügung haben möchte, zahlt heute bei
       Neuabschluss und einer erleichterten Gesundheitsprüfung eine monatliche
       Prämie von 63 Euro im Monat. Die Prämien des „Pflege-Bahr“ dürften noch
       teurer werden, da die Versicherungen jeden Antragssteller ohne
       Gesundheitsprüfung aufnehmen müssen.
       
       Der „Pflege-Bahr“ fördert die Privatisierung der Pflegekosten. Dabei ist
       schon heute bei den Betreuungsarrangements viel privates Geld nötig. Das
       Spektrum der „Körperklassen“ ist breit, und letztlich geht es immer um die
       Verteilung von „Versorgungszeit“.
       
       ## Premiumheime mit hoher Eigenbeteiligung
       
       Den besten Personalschlüssel bieten hotelähnliche 5-Sterne-Residenzen wie
       etwa die „Tertianum“-Kette. In diesen Premiumheimen werden aber
       Eigenbeteiligungen zwischen 3.000 und 5.000 Euro im Monat fällig. Dann gibt
       es die Zukunftshoffnung „Demenz-Wohngemeinschaften“, die durch die
       Pflegereform der Bundesregierung zusätzliches Personal erhalten.
       
       Auch hier ist der finanzielle Eigenbeitrag der Bewohner meist etwas höher
       als im herkömmlichen Heim. Der Begriff „Wohngemeinschaft“ beschönigt
       jedoch: In den Pflegeeinheiten kommt es wie in den großen Heimen auch vor
       allem darauf an, dass genug Personal zum Toilettengang, Waschen und
       Beruhigen zur Verfügung steht.
       
       Die Betreuungszeit zählt. Das zeigt sich erst recht im halblegalen
       Privatmodell mit osteuropäischen Pflegekräften, die im Haushalt mitwohnen.
       Ungefähr 1.500 Euro im Monat sind dafür an Eigenmitteln aufzubringen.
       
       Die Leistungen aus der allgemeinen Pflegeversicherung decken dabei niemals
       den Bedarf. Für zwei Einsätze am Tag, morgens und mittags, mit einem
       Zeitaufwand von insgesamt 105 Minuten verlangt etwa eine Sozialstation in
       Rheinland-Pfalz 2.000 Euro im Monat, die Pflegekasse zahlt davon nur 1.100
       Euro, es bleiben 900 Euro privat aufzubringen.
       
       ## Würde und Kränkung
       
       Und dann ist immer noch ungeklärt, wer der alzheimerkranken Mutter am Abend
       die Windeln wechselt, sie wäscht und zu Bett bringt. Der Anteil der
       Eigenmittel an den Pflegemodellen ist hoch. In einem Wochenbericht stellte
       das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) fest, dass Deutschland
       etwa im Vergleich zu den Niederlanden wenig öffentliches Geld für die
       Pflege ausgibt.
       
       Die Pflege ist so teuer, weil der Zeitaufwand für einen Pflegebedürftigen
       hoch sein kann, und das jahrelang. Das wird umso deutlicher in einer
       Erwerbsgesellschaft, in der nicht mehr unbegrenzt Haus- und Ehefrauen zur
       Verfügung stehen, um die private Pflege von Verwandten zu leisten.
       
       Der Pflegebereich ist der Lackmustest für die Ethik einer
       Leistungsgesellschaft, die nicht wahrhaben will, dass nun ausgerechnet für
       verwirrte, inkontinente Menschen Milliarden von Euro ausgegeben werden
       sollen, auch wenn diese BürgerInnen keinen sichtbaren Beitrag mehr für die
       Allgemeinheit leisten. Es geht nur um die Würde. Die Würde ist eben doch
       schwerer zu bewahren, als man dachte. Auch dies ist eine Kränkung, der sich
       die alternde Gesellschaft stellen muss.
       
       Wie weit soll die Allgemeinheit das Recht auf Würde im Alter finanzieren
       oder dem persönlichen Schicksal und Bankkonto überlassen? Die schwarz-gelbe
       Pflegereform, die am heutigen Freitag im Bundestag verabschiedet werden
       soll, bietet dazu nur kleine Verbesserungen. So gibt es etwa ein bisschen
       mehr Geld für Demenzkranke, der Pflegebeitrag soll auf 2,05 Prozent vom
       Bruttolohn steigen.
       
       Am grundsätzlichen Problem, dass zu viele gebrechliche Menschen zu viel
       Zeit im Bett verbringen, und dies mit vollen Windeln, und dass deren Zahl
       steigen wird, ändert das wenig.
       
       Mit 5 Euro staatlicher Förderung im Monat für eine Privatversicherung kann
       sich der Gesundheitsminister nicht freikaufen von den Versorgungsmängeln.
       Eine Gesellschaft, die möglichst alle Frauen in die Erwerbstätigkeit
       schicken will, sollte auch nicht mehr allzu sehr die Pflege durch die
       Familie beschwören, um sich vor den Verteilungsfragen zu drücken.
       
       ## SPD hat etwas begriffen
       
       Die oft angekündigte Einführung eines neuen „Pflegebedürftigkeitsbegriffs“
       könnte dazu führen, dass die Betreuungsschlüssel in Pflegeheimen und die
       Leistungen der Pflegeversicherung verbessert werden. Pflegezeit ist
       gekaufte Versorgungszeit. Jede Pflegereform braucht dazu mehr Geld im
       System. Es ist mutig, wenn der SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel
       ankündigt, den Pflegeversicherungsbeitrag auf 2,5 Prozent vom Einkommen
       erhöhen zu wollen, sollten die Sozialdemokraten an die Macht kommen.
       
       Die Frage lautet: Sind die Mittelschichten überhaupt bereit, einen höheren
       Beitrag zur allgemeinen Pflegeversicherung zu zahlen, damit auch die
       ärmeren Milieus akzeptabel versorgt sind? Oder entwickelt sich eine
       Körperklassengesellschaft wie in früheren Zeiten: Die einen werden umsorgt,
       die anderen nicht?
       
       29 Jun 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Dribbusch
       
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