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       # taz.de -- 300. Geburtstag von Jean-Jaques Rousseau: Der moralische Sprengsatz
       
       > Er war ein Aufklärer, ein Held und ein Taugenichts. Zwischen allen
       > Stühlen verteidigte er Freiheit, Autonomie und Moral mit einer
       > existenziellen Radikalität, die ihn so modern macht.
       
   IMG Bild: Wollte die Einheit von Ich und Denken offenlegen: Jean-Jacques Rousseau als Statue.
       
       Neben Voltaire bestattet zu werden, darin hätte Jean-Jacques Rousseau
       vermutlich die Höchststrafe gesehen. Ein Frevel, mit dem man ihn noch im
       Tode für seine Schriften belangen wollte und auf den der Virtuose der
       Flucht nicht mehr antworten konnte. Aber die Toten ruhen und der Zufall
       oder die Ironie der Geschichte haben es so eingerichtet, dass der berühmte
       Philosoph aus Genf in der Pariser Ruhmeshalle, dem Panthéon, neben Voltaire
       beigesetzt ist.
       
       Es war wohl eine der eindrücklichsten Prozessionen, die Paris je gesehen
       hat, als die sterblichen Überreste des 1778 verstorbenen Rousseau 1794 von
       der eigentlichen Grabstätte auf der Insel der Pappeln in Ermenonville in
       das südlich gelegene Paris gebracht wurden. Zu dem Zeitpunkt galt er
       bereits als Vordenker, als Vater der großen Revolution, und man meißelte
       sein Porträt auf die Steine der Bastille, um die Pariser Wohnzimmer damit
       zu schmücken.
       
       Vielleicht hätte er auch darin eine Verschwörung gewittert. Er war ein
       Paranoiker und ein real Verfolgter. Er galt als Masochist, aber das
       Abweichen von der Norm war kein Problem, das ihn beschäftigt hätte in einer
       Gesellschaft, in der er ohnehin nur falsches, sich selbst entfremdetes
       Leben erblickte. Er war ein Taugenichts, so sah er sich selbst, aber einer
       mit Tugenden. Er war vor allem ein Mensch der Paradoxa, wie er selbst
       eingestand. Auch seine Schriften sind davon durchzogen, alles bewegt sich
       auf dem Grat zwischen Aufklärung und Romantik und zwischen etatistisch und
       liberal.
       
       Rousseau hat die Idee in die Welt gebracht, dass ein Kollektiv von Menschen
       Träger der Souveränität sein kann. Das war revolutionär und läutete das
       moderne Denken über Staat und Gesellschaft ein. An der Schwelle zu jener
       neuen Zeit, die mit der Aufklärung und der Französischen Revolution begann,
       verortete ihn auch später Friedrich Nietzsche, jedoch: als „Missgeburt“.
       Eine „Moral-Tarantel“ nannte er ihn, Kant hingegen verehrte Rousseau als
       „Kopernikus der Moral“. Damit ist angedeutet, was früh offenkundig war –
       Rousseaus Werk ist umstritten wie das kaum eines anderen Philosophen.
       
       ## Ich, der Andere
       
       Am 28. Juni 1712 in Genf geboren, „kostete ich meiner Mutter das Leben, und
       meine Geburt war mein erstes Unglück“, schreibt er in seiner
       autobiografischen Schrift „Bekenntnisse“, an der er ab 1764 arbeitet und
       die erst postum veröffentlicht wird; eine Schrift, deren Kitsch und
       Selbstentblößung beinahe schmerzen.
       
       Mit ihr sollte ein vorbildloses Unternehmen gestartet werden, Rousseau, der
       immer wieder beteuerte „sein Leben dem Wahren hingeben“ zu wollen, hatte
       sich aufgetragen, die Einheit von Ich und Denken offenzulegen: „Ich will
       vor meinesgleichen einen Menschen in aller Wahrheit der Natur zeigen und
       dieser Mensch werde ich sein. […] Ich bin nicht gemacht wie irgendeiner von
       denen, die ich bisher sah, und ich wage zu glauben, dass ich nicht gemacht
       bin wie irgendeiner von allen, die leben.“
       
       Sein Vater Isaac Rousseau, ein Genfer Uhrmacher, mit dem er nächtelang
       Romane und vor allem die Schriften Plutarchs gelesen hat, wird angeklagt
       wegen eines Streits und flieht aus Genf, als Rousseau zehn ist. Er wird in
       die Obhut eines Pfarrers und eines Onkels gegeben, mit zwölf in die Lehre
       geschickt, steckt viel Prügel ein.
       
       Mit 16 beschließt er nach einem Spaziergang außerhalb von Genf, nicht mehr
       dorthin zurückzukehren. Er beginnt sein Nomadenleben, arbeitet als Lakai
       oder Musiklehrer, besucht ein Lazaristenseminar, hängt mit Kleinkriminellen
       ab oder schließt sich mit Bettlerschale einem Mann an, der vorgibt, ein
       griechischer Prälat zu sein und Geld für die Wiederherstellung des Heiligen
       Grabes zu sammeln.
       
       ## Rousseau, der Zögling
       
       Bei der Katholikin Madame de Warens in Chambéry hält er es ein paar Jahre
       aus. Die dreizehn Jahre ältere Frau macht ihn zu ihrem Zögling, Rousseau
       nennt sie „Maman“, 1731 arbeitet er zum ersten Mal ein paar Monate am Stück
       beim Savoyer Katasteramt, bevor er beschließt, Musiker zu werden und
       ausgiebig autodidaktische Studien betreibt.
       
       Mit Madame de Warens und ihrem Gutsverwalter beginnt er eine ménage à
       trois, in seinen „Bekenntnissen“ notiert er: „Mama erkannte, dass die
       Gefahren meiner Jugend es nötig machten, mich endlich als Mann zu
       behandeln, und das tat sie denn auch. […] Zum ersten Male fand ich mich in
       den Armen einer Frau, und einer Frau, die ich anbetete.“ 1742 bricht er
       nach Paris auf, um der Akademie der Wissenschaften sein Notensystem in
       Zahlen zu präsentieren. Er lernt Madame Dupin kennen, deren literarischer
       Salon einer der bekanntesten ist, und kommt in Kontakt mit der
       aristokratischen und künstlerischen Elite der Stadt.
       
       Nach einem Zwischenspiel als Gesandtschaftssekretär in Venedig kehrt er
       1744 nach Paris zurück. Er lernt Mäzene kennen, kann eine eigens
       komponierte Oper aufführen und trifft auf Denis Diderot und d'Alembert, die
       Herausgeber eines der Hauptwerke der Aufklärung, der „Encyclopédie“, für
       die er ab 1749 über 300 Artikel verfassen wird. Und er begegnet Thérèse
       Levasseur, einer Wäscherin, die weder lesen noch schreiben kann, aber von
       deren Einfachheit und Instinkt er begeistert ist und die er 1768 heiraten
       wird.
       
       ## Natur als Fiktion
       
       Sein Freund Diderot wird 1749 ob seiner Religionskritik gefangen genommen
       und in Vincennes eingesperrt. Auf dem Weg zu ihm nach Vincennes liest
       Rousseau im Mercure de France die Ausschreibung der Preisfrage der Akademie
       von Dijon: „Hat der Fortschritt der Wissenschaften und Künste zum Verderb
       der Sitten beigetragen?“ Er beschließt, eine Abhandlung zu schreiben.
       
       In den „Bekenntnissen“ schildert er jenen Augenblick dramatisch als
       Erleuchtung: „Von diesem Augenblick an war ich verloren. Der ganze Rest
       meines Lebens und all mein Leiden war die unvermeidliche Wirkung dieses
       Augenblicks der Verirrung.“ Auch Nietzsche sollte über hundert Jahre später
       ein derartig erleuchtendes Erlebnis beschreiben, als ihn die Idee der
       ewigen Wiederkunft des Gleichen in Sils Maria wie ein Blitz traf.
       
       Rousseaus Antwort auf die Preisfrage gewinnt den Preis der Akademie und
       macht ihn in ganz Europa bekannt. Seine „Abhandlung über die Wissenschaften
       und die Künste“ stellt den Wirkungszusammenhang zwischen wissenschaftlichem
       und künstlerischem Fortschritt und dem Sittlichen in Frage. Fortan
       beschließt er als Notenkopist in Armut und Unabhängigkeit zu leben, legt
       Degen und weiße Strümpfe ab.
       
       Von da an wächst sein Erfolg. Seine Oper „Der Dorfwahrsager“ gefällt König
       Ludwig XV., er will Rousseau eine Pension zahlen, doch Rousseau schlägt sie
       aus. Er mischt sich zunehmend laut in Streitigkeiten ein, die Aufsehen bei
       Hofe und in der Pariser Gesellschaft erregen und gebärdet sich immer
       obskurer, was auch seine Freunde verschreckt. Sein zweiter „Discours“, die
       „Abhandlung über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen“ von
       1754, erklärt den Verlust der Selbstliebe des Menschen im Naturzustand, die
       Ungleichheit des vergesellschafteten Menschen aus der Arbeitsteilung und
       der Tauschwirtschaft, die den Menschen in Abhängigkeit bringe.
       
       ## „Zurück zur Natur“
       
       Sein Zeitgenosse Voltaire hat das Missverständnis in die Welt gesetzt, für
       das häufig Rousseaus Satz „Zurück zur Natur“ herhalten muss, jener Satz aus
       seinem pädagogischen Hauptwerk „Émile“ (1762). Nach der Lektüre von
       Rousseaus zweitem Discours schreibt Voltaire an Rousseau: „Das Lesen Ihres
       Buches erweckt in einem das Bedürfnis, auf allen Vieren herumzulaufen.“ Die
       Feindschaft zwischen den beiden war von da ab nicht mehr aus der Welt zu
       schaffen und Voltaire galt späterhin als der Strippenzieher der ein oder
       anderen Intrige gegen Rousseau.
       
       Rousseau ist nie davon ausgegangen, dass der Mensch zu irgendeinem
       Naturzustand zurückkehren könne, wie sein Naturmensch auch bloß eine
       Fiktion ist, die dazu dient, die Verfasstheit der Kultur und des
       Kulturmenschen zu kritisieren. Der Mensch im Naturzustand, so die
       Vorstellung, lebt frei und unabhängig, er ist weder gut noch böse in einem
       moralischen Sinne, gut ist er nur in dem Sinne, dass er der Natur gehorche.
       
       Um den naturgegebenen Mangelzustand zu überwinden, müssten die Menschen
       eine Form des Zusammenlebens eingehen. Die Gesellschaft jedoch habe den
       Menschen zu einem Sklaven gemacht, Kunst und Wissenschaft verschleierten
       bloß die in Konventionen verursachte Selbstentfremdung.
       
       Im „Gesellschaftsvertrag“ („Contrat social“), seiner staatstheoretischen
       Schrift, räumt er auf mit der Idee des Staatszwecks von Thomas Hobbes,
       „dass der Despot seinen Untertanen die bürgerliche Ruhe sichert“, und
       fragt: „Mag sein, aber was gewinnen sie dabei?“ Rousseaus sieht etwas
       anderes, nämlich den Menschen, der frei geboren ist und überall in Ketten
       liegt.
       
       ## Das gesellschaftliche Sein
       
       Ein Bild aus dem Gesellschaftsvertrag, das auch im „Kommunistischen
       Manifest“ von Marx und Engels auftaucht. Wie auch gewisse Vorzeichen der
       rousseauschen Kulturkritik bei Nietzsche und Adorno wiederkehren und – es
       ist wohl bloß ein Zufall – alle drei die Liebe zur Musik, zum Komponieren
       und schließlich die lebensgeschichtlich doch recht folgenreiche
       Erfolglosigkeit in dieser Leidenschaft eint.
       
       Die Souveränität hielt er für unveräußerbar, den Gemeinwillen für nicht
       übertragbar. Gegenüber seinem Argwohn bezüglich jeder Form von
       Repräsentation kommt er immer wieder auf seine Fiktion sozialer
       Authentizität zurück. Alles gesellschaftliche Sein sieht er „auf den Schein
       reduziert, alles künstlich und gespielt“, dahinter, jenseits der
       kulturellen Entfremdung, muss es eine Wahrheit geben, die es offenzulegen
       gilt.
       
       Ist das eine Kritik, die heute im Zusammenhang mit der Kritik an den
       repräsentativen Demokratien anwendbar ist? Es ist nicht wünschenswert. Denn
       im rousseauschen Authentizitätswahn kann Gleichheit nur absolute Gleichheit
       bedeuten. Differenz und Vielheit kommen hier nicht vor. Rousseau imaginiert
       seine politisch-moralische Ordnung in einem homogenen republikanischen
       Raum, der letztlich nur totalitär gedacht werden kann.
       
       Rousseaus Hauptwerke, der „Gesellschaftsvertrag“ und der „Émile“,
       erscheinen beide 1762. Zu dem Zeitpunkt hat er sich längst für ein Leben in
       Abgeschiedenheit entschieden, die Freundschaft zu den Enzyklopädisten
       abgebrochen und läuft am liebsten in armenischem Gewand und mit Pelzmütze
       umher. Eine weitere unglückliche Liebe hatte ihn zu dem Briefroman „Julie
       oder Die neue Héloïse“ inspiriert, ein Werk, das ein herausragender Erfolg
       unter den belletristischen Büchern des 18. Jahrhunderts werden sollte.
       
       ## Ein Plädoyer für die Liebe
       
       Es war ein poetisches, von Pathos und Melancholie getragenes Plädoyer für
       die Liebe und gegen den aristokratischen Standesdünkel, aus dem eine
       subjektive Authentizität sprach, die eine neue Gefühlskultur erzeugte. Die
       „Héloïse“ und Goethes „Werther“ werden oft in einem Atemzug genannt, beide
       thematisieren den Selbstmord.
       
       Die „Neue Héloïse“ landet auf dem Index, der „Gesellschaftsvertrag“ und der
       „Émile“ sollen in Paris wie in Genf öffentlich verbrannt werden, gegen
       ihren Verfasser wird hier wie dort Haftbefehl erlassen. Unter dem Schutz
       Friedrich des Großen erhält er 1763 das Bürgerrecht von Neuenburg, wo er
       sich ausgiebig botanischen Studien widmet. Später werden ihm auch König
       George III. und der schottische Philosoph David Hume zu Hilfe kommen. Die
       Freundschaft mit Hume wird wieder einmal im Zerwürfnis enden.
       
       Rousseau stirbt am 2. Juli 1778 nach seinem Morgenspaziergang in der Natur.
       Er glaubt sich bis zum Ende verfolgt, sogar von seinen Freunden. Und von
       Voltaire! Klar. Womit Rousseau womöglich recht hatte.
       
       27 Jun 2012
       
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