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       # taz.de -- Biennale Wiesbaden: Beim Bankraub lieber zu zweit
       
       > Die Konspiration mit dem Zuschauer: Das Festival der Dramen aus Europa
       > erkundete auch neue Spielformen des Theaters. Hierbei werden die
       > Zuschauer involviert.
       
   IMG Bild: Anweisungen per Telefon: Szene aus „A machine to see with“.
       
       Dass die ganze Welt eine Bühne ist, ist eine Binsenweisheit. Dennoch kann
       es eine schöne Erfahrung sein, mit Zuschaueraugen eine Straßen abzugehen
       und dabei Wesentliches zu erkennen: Details, Strukturen, Unwägbares. Die
       dicke Frau dort sieht dann tatsächlich so aus, als habe sie sich nur
       unseretwegen kostümiert, und der ältere Herr, der an uns vorbeischlendert,
       blickt uns verdächtig lange ins Gesicht.
       
       Mit solcherlei Unsicherheiten des öffentlichen Raums spielt das britische
       Performance-Kollektiv „Blast Theory“ aus Brighton, die ihren Stadtrundgang
       während der Theaterbiennale „Neue Stücke aus Europa“ in Wiesbaden anboten.
       Die Besucher melden sich mit ihren Mobiltelefonnummern an, erhalten kurz
       danach einen Anruf und dann Kommandos am laufenden Band.
       
       Man soll hierhin und dorthin gehen, unterwegs in geheimer Mission und für
       einen guten Zweck. Auf der Toilette eines Cafés versteckt man das eigene
       Geld am Körper, auf einem Parkdeck steigt man in ein fremdes Auto, das
       Telefon immer am Ohr. Zum Schluss des nicht einmal eine Stunde währenden
       Spiels werden die Teilnehmer animiert, Wildfremden Geld zuzustecken.
       
       Danach wissen wir ein bisschen mehr über uns, und sei es auch nur, dass wir
       lieber zu zweit als allein die HypoVereinsbank ausrauben würden. Dazu kommt
       es aber leider gar nicht erst. Die Wahrnehmung schärft das alles vermutlich
       nicht mehr als jede Schnitzeljagd. Dass aber auch die große Umverteilung
       des Kapitals mit einer kleinen Geste der Barmherzigkeit beginnen könnte,
       bleibt als entzückende Lektion zurück. „A machine to see with“, so der
       Titel des Rundgangs, ist ein schönes, wenn auch etwas banales Spiel, das
       die Truppe zuvor schon in Minneapolis, Edinburgh und Taipeh vollführte.
       
       ## Unausweichlich intim
       
       Gewiss, andere Theatergruppen wie Signa oder Rimini Protokoll haben die
       Wirklichkeit wie den öffentlichen Raum schon ausgebuffter vorgeführt. Aber
       im Rahmen dieser Theaterbiennale, die vor 20 Jahren als dezidiertes
       Autorenfestival, das nachspielbare Stücke zeigt, an den Start ging, fällt
       die Grenzverschiebung von Autor zu Zuschauer zumindest auf. Bewegen müssen
       sich nämlich auch die Besucher des rumänischen Jahrmarktes „Spielplatz
       Târgoviste“. An unterschiedlichen Schauplätzen werden Geschichten erzählt,
       in denen sich die Klischees des Landes mit seinen Realitäten vermengen.
       
       Fünf Runden werden absolviert, wobei die Zuschauer sich viermal per Los
       bewerben können. Uns verschlägt es in den Gang der Freuden. In einer
       Schauspieler-Garderobe des Staatstheaters empfängt uns eine aufreizende
       Schöne, die aus ihrem Leben in den achtziger Jahren in der rumänischen
       Provinz erzählt. Ein Leben, das sich aus der Sehnsucht nach dem Trost der
       vielen Dinge speist und für den Aufstieg auch den eigenen Untergang in Kauf
       nimmt. Allein mit dieser Schauspielerin steigt die Zuschauerin unversehens
       in den Rang der Genossin auf. Unausweichlich intimes Theater.
       
       Auf den Bühnen des Hauses laufen derweil Mini-Dramen. „Ich habe Ceausescu
       erschossen“ etwa zeigt die Schauspielprobe des gleichnamigen Stücks und
       führt das Leben und das Theater herrlich eng. Ceausescu wurde in
       Târgoviste, eineinviertel Stunden von Bukarest entfernt, hingerichtet. Nach
       Stücken über die Städte Baia Mare und Piatra Neamt haben sich der
       rumänische Autor Peca Stefan und die Regisseurin Ana Margineanu die frühere
       Hauptstadt der Walachei vorgenommen, um ihre Trilogie „Über Rumänien, nur
       Gutes“ abzuschließen.
       
       Historische Wahrheiten, mythologische Spinnereien und Folklorehappen
       schaukeln auf ihrem Spielplatz für Erwachsene munter aufeinander zu. Gerne
       lässt sich der Zuschauer in diesem theatralen Vergnügungspark mal hierhin,
       mal dorthin treiben.
       
       ## Stücke im herkömmlichen Sinne
       
       Der Text verschlingt in der deutschen Übersetzung spielend 185 Seiten und
       ergibt strenggenommen kein Stück. Aber es gibt sie noch, neue Stücke im
       herkömmlichen Sinne. „Mörder“ des russischen Autors Alexander Moltschanow
       erzählt eine mitreißende Geschichte um Schuld und Sühne. Aber wie! Nicht
       als gewöhnliches Drama, sondern als Mischform aus Stück und Erzählung, das
       alle Regieanweisungen und Gedanken der Figuren leichthändig in Dialogform
       bringt.
       
       Die vier Schauspieler des Moskauer Theaters der Jungen Generation
       transportieren das als ungemein klares, kühles Kammerspiel auf engstem
       Raum. Und auf einmal ist sie wieder da: die vierte Wand, die Spiel von
       Leben trennt. Die Zuschauer sind nicht Teil der Inszenierung, sondern
       scheinen vielmehr gar nicht anwesend zu sein. Sie sitzen bloß da, schauen
       und rühren sich nicht vom Fleck. Ganz so wie es im Theater immer noch gang
       und gäbe ist.
       
       25 Jun 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Shirin Sojitrawalla
       
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