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       # taz.de -- Leere Wollkämmerei wird zwischengenutzt: Sandkiste für Kreative
       
       > In der Blumenthaler Wollkämmerei schufteten einst 5.000 ArbeiterInnen.
       > Heute werkeln in einem der leeren Backstein-Gemäuer 90 "Kreative".
       
   IMG Bild: Die Kissen aufgeschüttelt: 90 Kreative toben sich in den Räumen der alten Wollkämmerei aus.
       
       BREMEN taz | „Selbstausbeutende und Selbständige, Kreativarbeitende und
       KünstlerInnen, Prekäre und ProletarierInnen unserer neuen Arbeitswelt,
       vereinigt euch!“ Unter dieser Parole rief die „ZwischenZeitZentrale“ (ZZZ)
       im Mai zur Beteiligung am „Palast der Produktion“ auf – und bot mehr als
       4000 Quadratmeter Nutzfläche zum Nulltarif an: Die frühere „Sortierung“ der
       Bremer Wollkämmerei (BWK) sollte für vier Wochen als „Raum für soziale
       Interaktionen und konzentriertes Arbeiten“ zur Verfügung stehen. Rund 90
       interessierte und kreative Menschen kamen und bevölkern nun die
       historischen Gemäuer.
       
       Die Bremer Wirtschaftsförderung hatte die leer stehende Fabrik-Anlage der
       BWK im Dezember 2011 für drei Millionen Euro gekauft und weiß nicht recht,
       was daraus werden soll – von dem ZZZ-Projekt verspricht sie sich zumindest
       Aufmerksamkeit. Und für Daniel Schnier und Oliver Hasemann ist es ein wenig
       Berufung und ein wenig Job, leer stehende Immobilien einer
       „Zwischennutzung“ zuzuführen. Auch ihre „ZZZ“ ist staatlich finanziert, die
       Projektförderung läuft im August aus. Das BWK-Projekt „Palast der
       Produktion“ ist so etwas wie ein Abschluss – sie wollen sich damit für eine
       Folge-Finanzierung bewerben.
       
       Der Aufruf zur Beteiligung an dem „Palast der Produktion“ wurde weit
       gestreut, und es gab mehr Resonanz im fernen Linz oder in Leipzig als in
       der Bremer Hochschule der Künste, sagt Schnier.
       
       Daniela Nadollek etwa ist aus Leipzig gekommen, sie will eine „Performance“
       machen, dazu gehört heute fast selbstverständlich der Computer, der Bilder
       generiert, aber auch Stimmen, Sprache. Sie hat in Saarbrücken Kunst
       studiert, verdient ihren Lebensunterhalt als Aushilfe bei der
       Museumsaufsicht, ihre Kunst ist ihr Tor zur Selbstverwirklichung.
       Blumenthal ist weit weg von städtischem Leben, sie stört das aber
       eigentlich nicht, weil sie gekommen ist, um den Abstand zu genießen, aber
       vor ein paar Tagen ist sie doch mit ein paar anderen aus dem Projekt nach
       Bremen gewandert – sechs Stunden Fußweg weitgehend an der Weser entlang.
       
       Einen Raum weiter sitzen sechs „ältere Semester“ um Rona Schneider herum,
       Rentner aus dem Blumenthaler Umkreis. Sie beraten hier ihr Projekt
       „Geschichten aus der Unterweser“, es soll ein Lesebuch werden. Auf dem
       Boden liegen 20 Zettel, die den Flusslauf zeigen; die Orte, über die es
       schon Geschichten gibt, sind markiert.
       
       Aus dem Stadtteil Blumenthal hat sich übrigens auch der „Verein
       Kämmerei-Museum“ für vier Wochen in dem alten Backsteinbau einquartiert.
       Endlich gab es eine Chance, die vielen historischen Fotos und anderen
       Erinnerungsstücke einmal auszustellen, die der Verein inzwischen
       zusammengetragen hat. Warum wurde die Wollwäsche 1883 gerade in Blumenthal
       angesiedelt? „Das lag damals außerhalb des Zoll-Gebietes, gehörte zu
       Hannover“, erklärt Detlef Adamus. Aus demselben Grund siedelte sich die
       Lahusensche Konkurrenz der „Nordwolle“ dann in Delmenhorst an. Adamus, der
       langjährige Betriebsrat der BWK, ist heute in dem Verein aktiv. „Ich habe
       hier im Jahre 2009 das Licht ausmachen müssen“, sagt er. Damals stellten
       die zwischenzeitlich australischen BWK-Besitzer die Produktion ein.
       
       Auf einem Flur in der Sortieranlage sitzt eine Frau auf dem Boden und
       schmirgelt ein altes Holzstück. Sie arbeitet normalerweise als
       Informatikerin an der Uni Bremen und nimmt hier eine Auszeit – „mit den
       Händen arbeiten“, das ist ihre Berufung. In den alten Fabrikanlagen hat sie
       alte Fundstücke gesammelt, die sonst auf dem Sperrmüll landen würden und
       aus denen sie ein Kunstwerk handwerkeln will.
       
       Vier Philosophie-Studenten haben sich in der BWK einquartiert, die sich
       „IPTK“ nennen. Das klingt wie ein prall über Drittmittel finanziertes
       An-Institut der Universität, die Ausstattung des Raumes ist aber eher karg
       und deutet auf Armut hin: „Institut für Polytoxi-Komanologie“ sei das
       Geheimnis hinter der Abkürzung, sagt einer der Philosophen. Das
       beeindruckende Wort „Polytoxikomanie“ entpuppt sich bei der Recherche
       allerdings als Mehrfach-Drogensucht. Die Philosophen haben davon geredet,
       ein richtiges Orakel einzurichten – es gab nämlich zwei Löcher in der Wand,
       als sie hier vor 14 Tagen einzogen: Durch das kleine Loch oben sollen die
       Fragen gestellt werden, durch das große Mauerloch unten sollen sie die
       verschlüsselte Antwort orakeln. Und sie wollen den Achtstunden-Tag wieder
       einführen: Denn die völlige Freiheit des Geistesarbeiters führe zu dem
       Problem, dass dieser immer arbeiten könnte und das dann eher selten tut.
       Acht Stunden hinter Büchern sitzen, pünktlich alles zuklappen und Schluss
       machen wie ein ausgebeuteter Lohnarbeiter, das hingegen wäre ein
       Philosophen-Traum nach der Art des IPTK.
       
       Nebenan ist Bogenschießen angesagt. Urs Kaas hat einen großen, hellen Raum
       dafür bekommen. Von Beruf ist er Ergotherapeut in Blumenthal und kommt oft,
       aber nur nach Feierabend. „Wie eine große Sandkiste“ sei dieses Projekt,
       schwärmt er, da könne sich jeder verwirklichen nach seiner Art. In dem Raum
       stehen nur vier Liegestühle, in denen man sich auf die Meditation des
       Bogenschießens einlassen kann: Abschalten und ins Nichts der Wolken
       schauen, das ist ihr Angebot. Urs Kaas freut sich daran, wie viel da
       improvisiert wird und wie die „schrägen Leute“, die in der BWK
       zusammengekommen sind, im Grunde wie eine große Kommune zusammenleben. Für
       die „Auswärtigen“ gibt es sogar Schlafmöglichkeiten im Gebäude nebenan.
       
       Am 14. und 15. Juli ist Schluss in dem alten Gemäuer, dann soll es eine
       große Abschlusspräsentation geben von dem, was im „Palast der Produktion“
       gemacht wurde. „Gemeinsam schaffen wir ein Laboratorium zur Erprobung
       kollektiver Arbeitsformen und neuer Produktionsweisen“, hieß es in dem
       Aufruf, ein „Gegenmodell zur entgrenzten und vereinzelten Erwerbsarbeit“
       sollte entstehen, „neue Formen des Arbeitens“ sollten ausprobiert werden.
       
       Davon allerdings ist drei Wochen vor der „Produktschau“, die zum Abschluss
       im „Palast der Produktion“ stattfinden soll, noch wenig zu erkennen.
       
       24 Jun 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Klaus Wolschner
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