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       # taz.de -- Piraten und Medienkompetenz: Clash of Codes
       
       > Die Piraten wollen andere Politiker sein. Der Medienmaschine können sie
       > sich aber nur schwer widersetzen. Das produziert Skandale. Wer gewinnt?
       
   IMG Bild: Die bekennende „Internet-Exhibitionistin“ Julia Schramm beim Parteitag der Piraten im April.
       
       Das alles sei ihm einfach nur so rausgerutscht. Eine Dummheit, ärgerlich,
       schmerzhaft in ihrer Wirkung, aber schlicht der eigenen Unerfahrenheit
       geschuldet. Während eines Interviews mit dem Spiegel gab Martin Delius,
       Berliner Abgeordneter der Piratenpartei, kürzlich zu Protokoll, das rasante
       Wachstum seiner Partei sei nur noch mit dem der NSDAP zwischen 1928 und
       1933 vergleichbar.
       
       Schon kurz nach dem Gespräch ist er selbst schockiert über diesen
       Vergleich. Und macht den nächsten Fehler. Das eigene Versäumnis, so seine
       Devise, legt man am Besten gleich selbst offen. Der übliche Mechanismus der
       Kommunikationskontrolle (man beseitigt ein unliebsames Zitat durch
       Autorisierungsverweigerung) ist ihm fremd, widerstrebt ihm. Also twittert
       er das Gesagte, um eine Art Gegenöffentlichkeit zu schaffen, seine Leute
       vorzubereiten – wohlgemerkt, noch bevor überhaupt eine Öffentlichkeit
       entstanden ist.
       
       Erst dann meldet er sich wieder beim Spiegel, versucht, immer noch entsetzt
       über den eigenen verbalen Fehlgriff, den seltsam giftig ausstrahlenden Satz
       doch noch irgendwie zu entsorgen, einzuhegen. Ohne Erfolg.
       
       Dann explodiert der Skandal, der eigentlich keiner ist, als Vorabmeldung
       auf Spiegel Online. Es folgt ein Shitstorm, schließlich das übliche
       Aufregungsritual der politischen Konkurrenz in den klassischen
       Massenmedien. Und Martin Delius, der sich seit Jahren gegen
       Rechtsextremismus engagiert, zieht seine Kandidatur für den Posten des
       politischen Geschäftsführers der Partei zurück, publiziert eine
       ausführliche Entschuldigung.
       
       ## Transparenz gegen Kontrolle
       
       Man könnte damit all dies eigentlich auf sich beruhen lassen. Aber die
       Geschichte ist doch in allgemeiner Hinsicht aufschlussreich. Sie zeigt
       einen Clash of Codes, ein Aufeinanderprallen unterschiedlicher
       Kommunikationslogiken, Weltanschauungen, Interessen. Transparenz steht hier
       gegen Kontrolle, die Fehlertoleranz gegen eine professionelle
       Imagekosmetik, die in anderen Parteien längst üblich ist. Und faktisch fand
       und findet, auch das mag hineinspielen, netzintern eine Banalisierung des
       Bösen statt, die die klassische massenmediale Öffentlichkeit verstören
       muss.
       
       Man lacht im Netz ziemlich oft und gern über Nazis und Adolf Hitler.
       Satirisch unterlegte Szenen aus dem Film „Der Untergang“ sind auf YouTube
       und anderen Plattformen zum Hit geworden. Und der NS-Vergleich steht
       pauschal für ein Unbehagen, manchmal auch nur für eine irgendwie ärgerlich
       wirkende Pedanterie („Rechtschreib-Nazi“, „Grammatik-Nazi“) – eine
       Tatsache, die den Autor Mike Godwin bereits 1990 zur ironisch gemeinten
       Formulierung von Godwin’s Law inspirierte, einem Gesetz, das im Kern
       besagt: Irgendwann kommt in jeder Netzdiskussion gewiss der NS-Vergleich.
       
       ## Kuriose Normverletzungen
       
       Aber der Clash of Codes greift tiefer, geht weit über ein unterschiedlich
       ausgebildetes Tabuempfinden hinaus. Zentral ist, dass die Piraten den
       Amateur wirklich ernst nehmen, zulassen, fördern, die Kontrollideologie der
       etablierten Parteien ablehnen, Nahbarkeit wünschen, Transparenz verlangen.
       Die Folge: Sie programmieren in einer auf private Peinlichkeiten und
       kuriose Normverletzungen starrenden Mediengesellschaft den Skandal, die
       boulevardeske Erregung.
       
       Die authentische Selbstentblößung Einzelner lässt sich wunderbar verwerten
       und in das Muster herablassender Freakgeschichten einfügen: „Guck mal! Wie
       seltsam! Wie merkwürdig!“
       
       Bei der allmählichen Verwandlung der Piratenidee in ein Medienspektakel
       hilft es selbstverständlich enorm, dass manche von ihnen nur Latzhosen und
       Palästinensertuch tragen und ihr Stammtischgegröle zur Frauenquote
       („Tittenbonus“) twittern.
       
       Es hilft, dass manche Piratinnen weltöffentlich über
       Menstruationsbeschwerden, den ersten Kuss und den Moment der Verlobung
       schreiben, streng ihrem internen Code der öffentlichen Privatheit folgen,
       der sich nur allzu leicht in eine medial erwünschte Präsentation übersetzen
       lässt. Und es hilft ganz gewiss, dass manche gezielt den Schemabruch
       einsetzen, die Antiinszenierung inszenieren – und sich die Krawatte nicht
       um den Hals, sondern um den Arm binden, in Sandalen in die Talkshow
       marschieren oder sich im Netz präsentieren, wie sie gerade eine Linie
       weißes Pulver (Salz, versteht sich) schniefen.
       
       ## Bedauerliche Einzelfälle
       
       Wieder andere bedienen die mediale Verwertungslogik deutlich hilfloser,
       ohne das dringend benötigte Minimum an Offlinekompetenz. Sie produzieren
       kleinere und größere Kommunikationsdesaster in Serie, die inzwischen ein
       anonym agierender Blogger unter der Überschrift [1][„Bedauerliche
       Einzelfälle“] dokumentiert.
       
       Hier entdeckt man sexistische oder sonstige Fehlleistungen in gehäufter
       Form und bemerkt eine allgemein menschliche Medialitätsvergessenheit, ein
       mangelndes Gespür für extreme, prinzipiell unbeherrschbare
       Kommunikationseffekte unter den modernen Medienbedingungen.
       
       Niemand, eben auch kein mit seinem Smartphone verwachsener
       Technik-Aficionado, kein nervöser Nerd kann sich vorstellen, was mit seinen
       Daten, seinen Tweets, seinen Postings in Zukunft geschieht, und ist auf die
       beschämenden Kombinationen gefasst, in denen sie eines Tages eventuell zu
       ihm zurückkehren, sich unauflösbar mit dem eigenen Ich verbinden.
       
       ## Bekenntnis der eigenen Ahnungslosigkeit
       
       Das macht selbstverständlich Angst. Und so reagieren einzelne Piraten
       erkennbar eingeschüchtert, verwandeln sich in Taktiker, Antwortverweigerer
       und seltsam ungreifbar wirkende Systemadministratoren, die einen Kommentar
       nur dann abgeben wollen, wenn die Partei einen aber auch wirklich absolut
       glasklaren Beschluss zum Thema gefasst hat.
       
       Sie flüchten sich in das Bekenntnis der eigenen Ahnungslosigkeit und
       entziehen sich, ängstlich, zittrig, zwischen unterschiedlichen Codes
       schwankend, den großen Fragen, die da lauten: Wie viel Andersartigkeit
       erträgt die Mediengesellschaft? Kann man eine tatsächlich neue, eine
       radikal basisdemokratische Matrix der Kommunikation etablieren? Oder wird
       das Plädoyer für die andere Form von den konkreten, gerade aktuellen
       Augenblicksreizen (den hässlichen Sandalen, den chauvinistischen Tweets,
       den blödsinnigen NS-Vergleichen) überblendet?
       
       Kann sich die Metabotschaft der technisch gestützten Nahbarkeit und
       Berührbarkeit durchsetzen? Oder werden die Piraten den Weg der medialen
       Selbstverbrennung gehen, zum eigenen Schaden auf ihren internen Codes
       bestehen, sich von den Borderlinern in den eigenen Reihen treiben und durch
       Skandale fixieren lassen?
       
       ## Charlotte-Roche-Imitation
       
       Vielleicht wird man diese Fragen bald entscheiden können. Und vielleicht
       hat der Tag der Entscheidung ein konkretes Datum. Es könnte irgendwann nach
       dem 17. September 2012 liegen. An 17. September erscheint das Buch der
       Berliner Piratin Julia Schramm, Mitglied des Bundesvorstandes. Es trägt den
       Titel „Klick mich! Bekenntnisse einer Internet-Exhibitionistin“ und muss
       schon wegen des Vorschusses, den der Verlag dafür ausgegeben hat, unbedingt
       ein Erfolg werden.
       
       Man spricht parteiintern von einer Charlotte-Roche-Imitation des
       Netzzeitalters, will sich aber damit nicht zitieren lassen. Nun schreibt
       Julia Schramm also auch mit Blick auf das Reizkorsett der parteiexternen
       Medienwelt ein paar Sexgeschichten nieder, erzählt ein wenig von Marihuana,
       ein bisschen über Adolf Hitler und das geschichtsvergessene Gelächter der
       Netzgemeinde. Aber eigentlich, so sagt sie, geht es ihr um etwas anderes,
       das sich wiederum nur formelhaft ausdrücken lässt. Sie nennt es die
       Demokratisierung des Publizierens. Das Ende der Hierarchie. Die neue Matrix
       der Kommunikation.
       
       Aber wie dafür werben, wenn die Form selbst zur Botschaft werden soll und
       die eigene Person eigentlich nicht zählt? Wie sprechen, wenn man die Regeln
       brechen will, die man doch auch bedient und vielleicht bedienen muss? Wie
       schreiben, wenn man die Gier der Mediengesellschaft verstanden hat, aber
       dann doch auch wirklich noch ein paar andere, ungleich wichtigere Inhalte
       loswerden will?
       
       Lösen lässt sich ein solches Dilemma kaum. Man muss daher kein Prophet
       sein, um den nächsten Skandal vorherzusagen. Kommen wird er, das ist
       gewiss.
       
       23 Jun 2012
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://einzelfaelle.tumblr.com/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bernhard Pörksen
       
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