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       # taz.de -- Film „Alpen“: Die Mysterien des Kinos
       
       > Yorgos Lanthimos Spielfilm „Alpen“ spielt knapp neben unserer Realität.
       > Die Hauptfiguren ersetzen vorübergehend Verstorbene für Angehörige und
       > Freunde.
       
   IMG Bild: Für „Alpen“ wurde Yorgos Lanthimos (rechts) beim Filmfestival in Venedig ausgezeichnet.
       
       Astronomen spekulieren, unser Universum sei nur ein winziger Teil eines
       unvorstellbar großen und vielfältigen Multiversums, in dem so gut wie jede
       vorstellbare Welt existiert. Vielleicht hilft es, diese Theorie im
       Hinterkopf zu behalten, wenn man die Filme der befreundeten griechischen
       Regisseure Yorgos Lanthimos und Athina Rachel Tsangari im Kino erlebt.
       
       Die Werke beider haben in den letzten Jahren etliche Preise auf
       internationalen Festivals gewonnen – und ebenso viel Unverständnis
       geerntet. Denn sie entziehen sich den üblichen Kriterien eines filmischen
       Realismus. Sie spielen zwar in einer Welt, die wie unsere aussieht, dennoch
       scheinen die Regeln, nach denen sie funktioniert, leicht verschoben.
       
       „Stellen Sie sich einen Science-Fiction-Film vor: Sie haben Aliens und
       einen fremden Planeten. Vielleicht sind meine Figuren ja Aliens und der
       fremde Planet ist die verfallende Industriestadt an der Küste, in der mein
       Film spielt“, sagte Tsangari über ihren Film „Attenberg“ im taz-Interview.
       
       Zu Beginn von Yorgos Lanthimos’ neuem Spielfilm „Alpen“ tanzt eine
       Bodenturnerin ihre Bänderübung zu Carl Orffs „Carmina Burana“. Genervt
       sinkt sie im Anschluss auf den Boden. „Warum können wir keinen Popsong
       nehmen?“, fragt die junge Frau ihren Trainer. „Du bist noch nicht weit
       genug für Pop“, entgegnet der. Als die junge Frau Widerworte gibt, bleibt
       der Übungsleiter ganz ruhig: „Wenn du mir noch einmal widersprichst, nehme
       ich einen Knüppel und schlage dir den Schädel ein. Und dann breche ich dir
       deine Arme und Beine. Dann kannst du wirklich nicht mehr zu Pop tanzen.“
       
       ## Blutüberströmt im Krankenwagen
       
       Warum ist Pop schwieriger als Klassik? Ist es nicht gerade das Merkmal von
       Popmusik, dass sie rhythmisch einfach ist und zugänglich? Warum diese in
       gleichmütigem Ton vorgetragene, aber völlig überzogene Reaktion des
       Trainers?
       
       Die folgende Szene verunsichert weiter. Eine blutüberströmte junge Frau
       liegt in einem Krankenwagen (ist es die Bodenturnerin nach einem weiteren
       Widerwort gegen ihren Trainer?). Der Sanitäter fragt sie nach ihrem Namen,
       redet sie dann aber anders an. Er teilt ihr mit, dass sie wahrscheinlich
       sterben wird. Unmittelbar danach will er ihren Lieblingsschauspieler
       wissen. Doch die junge Frau ist schon zu schwach, um zu antworten. Er
       schlägt ihr Namen vor: „Brad Pitt? Johnny Depp? Was, nicht Johnny Depp?“,
       gibt er sich verwundert.
       
       Der Sanitäter ist der Chef einer vierköpfigen Gruppe – darunter die
       Turnerin und ihr Trainer – mit dem Namen „Die Alpen“. Jedes der Mitglieder
       der Gruppe trägt den Namen eines Gebirgsgipfels. Der Chef nennt sich
       logischerweise Mont Blanc. Was sie genau tun, bleibt zunächst rätselhaft.
       Die Kameraarbeit von Christos Voudouris hilft wenig, einen festen Anker in
       der Realität zu finden.
       
       ## Bildmitte mit unscharfen Flächen ausgefüllt
       
       Gerade zu Beginn arbeitet er immer wieder mit geringer Tiefenschärfe.
       Teilweise wird die Mitte des Cinemascope-Bildes komplett durch unscharfe
       Farbflächen ausgefüllt, während lediglich am äußersten Rand das Gesicht
       eines Alpen-Mitglieds fokussiert zu sehen ist. Manchmal sind es auch nur
       Körperteile, während der Kopf außerhalb der Kadrage bleibt. Der Zuschauer
       ist in diesen Einstellungen ganz eng in der Welt der Alpen gefangen, ohne
       dass Voudouris dafür eine unruhige Handkameraästhetik benötigen würde.
       
       Lanthimos’ letzter Film „Dogtooth“ fiel ebenfalls durch seine dezentrierten
       Bildkompositionen auf, die den Mensch an den Rand rückten. Jedoch arbeitete
       Kameramann Thimios Bakatakis, der auch „Attenberg“ gedreht hat, damals mit
       lichtdurchfluteten, klaren Bildern mit großer Tiefenschärfe.
       
       Das ist natürlich kein Zufall: In ähnlicher Weise gegensätzlich und doch
       miteinander verbunden sind „Dogtooth“ und „Alpen“. Handelte „Dogtooth“ von
       einem Ausbruchsversuch aus einer künstlichen Welt, so geht es in „Alpen“,
       wie der Zuschauer sich nach und nach zusammenreimen kann, um das Vorstoßen
       in eine fiktive Realität.
       
       Die Alpen sind so etwas wie Schauspieler, die allerdings nicht auf einer
       Bühne oder vor einer Kamera agieren, sondern in der Realität. Für einige
       Stunden in der Woche ersetzen sie Verstorbene für deren Angehörige und
       Freunde. Inszeniert werden nicht nur schöne Momente. Eine Blinde, die
       offenbar sowohl ihren Mann als auch ihre beste Freundin verloren hat, lässt
       zwei der Alpen-Mitglieder eine Ehebruchs-Szene spielen. Die Betrogene
       erwischt ihren (Ersatz-) Mann und ihre (Ersatz-)Freundin in flagranti und
       beginnt, empört auf sie einzuschlagen. Wird der Zuschauer Zeuge eines
       therapeutischen Reenactments? Einer sexuellen Fantasie? Eines verzweifelten
       Abnabelungsversuchs vom Verstorbenen?
       
       ## Leblose Performances als Projektionsfläche
       
       Auf eine besondere Ähnlichkeit der Alpen zu den Verstorbenen oder auf
       besonderes Schauspielvermögen kommt es nicht an. Im Gegenteil: Sie sind
       wenig mehr als Platzhalter für die Verstorbenen, die ihre Sätze mehr
       aufsagen als verkörpern. Trotzdem scheinen den Auftraggebern diese seltsam
       leblosen Performances auszureichen, sie brauchen offenbar nur wenig, um die
       Erinnerungen an die Vorstellungen auf die Alpen zu projizieren.
       
       Ist es sogar so, dass gerade die große Differenz zwischen „Original“ und
       „Fälschung“ die „suspension of disbelief“, also die bewusste Ausschaltung
       des Zweifels, für die Hinterbliebenen erleichtert? Solche Fragen führen
       direkt zu den Grundlagen des Kinos als Illusionsmaschine. Denn ähnlich wie
       im Filmschnitt die Aneinanderreihung von zwei ähnlichen Bildern als Sprung,
       also als Fehler wahrgenommen wird, so erzeugen Filme, die nur knapp neben
       unserer Realität liegen, eine Abwehrreaktion beim Publikum – sie werden als
       falsch wahrgenommen, gerade weil sie einen Vergleich herausfordern.
       
       Auf der anderen Seite ermöglichen zwei sehr unterschiedliche Bilder einen
       sogenannten „unsichtbaren“ Schnitt. Völlig fantastische Geschehnisse auf
       fremden Planeten werden ohne Probleme im Kino als real akzeptiert. „Alpen“
       geht den mutigen Weg. Yorgos Lanthimos präsentiert eine Parallelwelt, die
       fast unsere eigene sein könnte – und riskiert damit ständig die „suspension
       of disbelief“. Dennoch: Den offenen Betrachter führt sein listig gebauter
       Metafilm umso tiefer in die Mysterien des Kinos ein.
       
       13 Jun 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sven von Reden
       
       ## TAGS
       
   DIR Kino
       
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