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       # taz.de -- Kolumne Bestellen und versenden: Muckerlinke in Wandersandalen
       
       > Heute ist Disziplin nicht der Feind der Kreativität, wie die
       > hedonistischen Piraten meinen. Beides gehört untrennbar zusammen.
       
       Würde es nach Slavoj Zizek gehen, wäre Oskar Lafontaine noch ganz vorne
       dabei. Denn was Lafontaine von seiner zerstrittenen Partei Die Linke
       vergeblich einforderte – Gefolgschaft und Disziplin –, empfiehlt der
       neoleninistische Philosoph der Linken insgesamt.
       
       In „Die bösen Geister des himmlischen Bereichs. Der linke Kampf um das 21.
       Jahrhundert“, einem seiner neuen Bücher, will Zizek das Konzept „Disziplin“
       für eine neue linke Politik brauchbar machen. So glaubt er dem verhassten
       linksliberalen Weicheiertum und Multikulti entkommen zu können.
       
       Nun weiß man von aberhunderten Diskussionen über Nation und Patriotismus,
       dass das mit dem Kapern derartig besetzter Begriffe so eine Sache ist. Auch
       die „Disziplin“ lässt sich nicht einfach mit links politisch und semantisch
       umwidmen. Und wenn es versucht wird, dann eher im Namen einer heroischen
       Mucker- und Mackerlinken, deren Zeitalter nicht kommen wird, wie Zizek es
       sich mit seiner neuen linken Härte erhofft, sondern abgelaufen ist, wie
       Lafontaine bewiesen hat. Gleichwohl stößt der selbstbewusste Verzicht auf
       Disziplin auf Skepsis – nicht allein bei fehlender „Haushaltsdisziplin“ von
       Griechen oder Franzosen.
       
       In vielen Kommentaren zu den Piraten wird zwar gönnerhaft deren „neuer
       Politikansatz“ wertgeschätzt, die programmatische und personelle
       Unübersichtlichkeit ihrer „liquiden Demokratie“ dann aber doch meist
       angeprangert. Die Piraten sind für viele ihrer Kritiker offenbar das
       parteipolitische Symptom jener „ADHS-Kultur“, die der Autor Christoph
       Türcke in seinem aktuellen Buch „Hyperaktiv! Kritik der
       Aufmerksamkeitsdefizitkultur“ ausmacht.
       
       Die Selbststigmatisierungen sind bekannt: Pirat Christopher Lauer hat seine
       ADHS-Diagnose bekenntniszwanghaft öffentlich gemacht, und der jetzt schon
       legendäre Piratenmann mit den Wandersandalen saß twitternd mit Smartphone
       in einer Talkshow. „Disziplin ist der Feind der Kreativität“, heißt es
       folgerichtig auf der Seite der „Hedonistischen Plattform in der
       Piratenpartei“.
       
       Das Problem vieler Piraten ist allerdings, dass sie in einer krass
       verkürzten Foucault-Rezeption mit den klassischen Disziplinarinstitutionen
       gleich jede Institution verachten, selbst eine gemächliche Ausschusssitzung
       empfinden sie als Zurichtung und Quasi-Knast. Ihr Neoanarchismus übersieht
       dabei den ermächtigenden Charakter von gesellschaftlichen und politischen
       Institutionen: keine Umverteilung ohne staatliche Institutionen, keine
       wirksame öffentliche Stimme ohne ein Mindestmaß an Institutionalisierung.
       
       Davon abgesehen wird längst außerhalb der ideologischen Staatsapparate
       munter diszipliniert, sozusagen in liquider Form. Die Disziplin hat sich
       genauso verflüssigt wie die Meinungsbildung der Piraten, und sie hat sich
       individualisiert. In Zeiten erzwungener Autonomie ist jeder sein eigenes
       Bootcamp und hat sich seiner selbst zu unterwerfen. Nicht mehr
       fremdbestimmt, sondern autonom ist Disziplin zu üben: „Die Macht der
       Disziplin: Wie wir unseren Willen trainieren können“, heißt ein
       repräsentativer neuer Ratgebertitel im Campus Verlag.
       
       Heute ist Disziplin nicht der Feind der Kreativität, wie die hedonistischen
       Piraten meinen, sondern dessen andere Hälfte. Der umstrittene Autor Ingo
       Niermann bringt das in einem gerade zur documenta 13 erschienenen Text über
       „Drill“ so auf den Punkt: „Auch Individualität will dressiert sein. Wer die
       Wahl haben will, muss sich drillen.“ Ansonsten ist Niermanns Text „Drill
       dich!“ allerdings der achtzigerjahreartige Versuch, die Anrufung zur
       Selbstdisziplin durch ironische Überaffirmation ins Leere laufen zu lassen.
       
       Das dürfte letztlich genauso wenig erfolgversprechend sein wie Slavoj
       Zizeks Neuentdeckung der Disziplin für revolutionäre Kraftmeiereien. Der
       Ballast, den das Wort mit sich trägt, lässt sich nicht mal eben so
       voluntaristisch abschütteln. Viel zu durchdringend klingen denn auch längst
       die kulturpessimistischen Klagen, die von den durch so viel
       Multitaskingterror aufmerksamkeitsgestörten jungen Leute „mehr Disziplin,
       bitte!“ verlangen.
       
       12 Jun 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Aram Lintzel
       
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