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       # taz.de -- Kürzungen in der Jugendarbeit: Das zweite Zuhause
       
       > Jugendclubs und Bauspielplätze sind in Hamburg von der Schließung
       > bedroht. Ein Besuch an drei Orten, an denen Kinder gern ihre Freizeit
       > verbringen.
       
   IMG Bild: Wie eine Kulisse aus einem Abenteuerfilm für Kinder: der Elbe-Aktiv-Spielplatz im Hamburger Westen.
       
       HAMBURG taz | Montagnachmittag im Jugendcafé Altona-Altstadt. Marouen (15)
       kommt mit einem Freund herein und legt vor Betreuerin Susa Neukirch zwei
       Tütchen mit chinesischer Nudelsuppe auf den Tresen. Neukirch holt zwei
       Schüsseln und bringt heißes Wasser, die beiden Teenies setzen sich und
       genießen ihren Snack. Ein eingespieltes Ritual. Sie sei ja froh, dass die
       Kinder die Nudeln nicht trocken essen, sagt die Pädagogin.
       
       Der Raum füllt sich. Weiter hinten neben Billardtisch und Spieleregal
       lümmeln sich die Jugendlichen in der Sofaecke. Aber nicht mit den Füßen auf
       dem Polster. Es gibt hier Regeln und gelbe und rote Karten. Trotzdem fühlen
       sich die Jungen wohl. „Ich bin immer nach der Schule hier. Das ist unser
       Wohnzimmer“, sagt der 14-jährige Dimas. Am meisten gefalle ihm das
       gemeinsame Kochen am Mittwoch. Auch Marouen kommt regelmäßig, obwohl er auf
       eine Ganztagschule geht. „Manchmal habe ich Glück. Da geht die Schule nur
       bis 14 Uhr“, sagt er. „Schule nervt … Schule nervt“, singt ein Junge, der
       hinter ihm hin und her geht. Warum? „Da hacken sie immer auf den selben
       rum.“
       
       "Das rockt hier" 
       
       Zwei Mädchen kommen rein. Das es hier so viele Jungs gibt, störe nicht,
       sagt Sertap. Sie kenne die von klein auf. „Das rockt hier, weil man mit
       Freunden nicht draußen sein muss“, sagt die 16-Jährige. „Es ist so chillig
       hier und man kann mit denen über alles reden. Es ist unser zweites Zuhause
       und im Winter bekommen wir heißen Tee.“
       
       Mit „denen“ meint sie Sozialpädagogin Susa Neukirch und Erzieher Hasan
       Toptik, die vor einer Woche fast in Ohnmacht fielen, als eine Streichliste
       aus dem Jugendamt Altona die Runde machte. „Standortoptimierung“, wird dort
       die ab Januar 2013 geplante Schließung dieses Treffs genannt. Dabei macht
       das Juca-Altstadt schon das, was von der Politik gefordert wird. Bietet
       Kooperationskurse mit Schulen an, ist Anlaufpunkt für niedrigschwellige
       Einzelfallhilfen. Doch die Betriebskosten für den Treff stehen auf der
       Streichliste, die die Bezirke bis zur Sommerpause aufstellen müssen, damit
       der Sozialetat im Ganzen nicht mehr als 0,88 Prozent steigt und Hamburgs
       Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) seine Sparziele erreicht.
       
       Die anderen Jugendtreffs in Altona seien weit weg, schimpft Sertap. „Da
       gehen wir nie hin.“ Aber an diesem Nachmittag wollen sie in den
       Jugendhilfeausschuss Altona, um zu fragen, was es mit der Streichliste auf
       sich hat. Auch zwei Nachbarinnen kommen mit. „Es wäre schlimm, wenn sie das
       Jugendcafé zumachen“, sagt Anna Damaeng. „Dann wissen die Kinder nicht, was
       sie mit ihrer Zeit anfangen sollen und kommen auf dumme Gedanken.“ Sie
       wohne seit 30 Jahren in dem Viertel. Früher, bevor 1992 das Juca
       eingerichtet wurde, habe es wilde Zeiten gegeben. „Das hat sich gebessert.“
       
       Es nieselt. Der Weg zum Ausschuss quer durch Altona ist ganz schön weit.
       Und als die Jugendlichen auf den Zuschauersitzen Platz nehmen, gibt es eine
       Enttäuschung. Fragen zu den Kürzungen dürfen in der öffentlichen
       Fragestunde nicht gestellt werden. Dies müsste schriftlich beantragt
       werden, sagte der Vorsitzende. Anders als üblich, hält er sich streng an
       Formalien.
       
       Angewandte Physik auf dem Spielplatz 
       
       Schlecht vom Jugendamt informiert sehen sich auch die Mitarbeiter des
       Elbe-Aktiv-Spielplatzes ein paar Kilometer weiter westlich in Groß
       Flottbek. Es ist Dienstagnachmittag, Feuer brennt auf dem Bauspielplatz,
       Kinder, die nach der Schule hierher kommen, wuseln zwischen den selbst
       gebauten Hütten herum. Es gibt Türmchen, Brücken, Seile, Schaukeln, der
       Spielplatz sieht aus wie eine Filmkulisse für einen Abenteuer-Kinderfilm.
       
       Sascha und Kirill kommen auf den Platz, klatschen bei Erzieher Niklas ab,
       und verschwinden in ihrer Hütte. Der zwölfjährige Paul ist mit seinem
       kleinen Bruder da, zeigt ihm eine Hütte, die er mit einem Freund gebaut
       hat, bevor die Schule ihm zu viel Zeit abverlangte.
       
       Zwei anderen Jungen balancieren eine schwere Stange herum. Sie soll als
       Rutsche von dem Hochplateau einer Brücke zum Boden führen. „Das hält. Ich
       hab das mit Elefantennägeln befestigt“, beteuert Justin. Pädagogin Dolores
       Ribas ist skeptisch und hebt den Stab von unten leicht an. „Ihr müsst noch
       was dagegen tun, dass sie sich bewegt“, sagt Ribas. Vielleicht noch ein
       Brett dagegen nageln. Das sei angewandte Physik, erklärt sie später. „Hier
       können Kinder scheinbar sinnlose Sachen machen. Können sich bewegen und
       verausgaben, ohne dass einer Leistung erwartet.“
       
       Doch auch die Zukunft dieses 40 Jahre alten Bauspielplatzes – vis à vis des
       Elbe-Einkaufszentrums – scheint plötzlich nicht mehr sicher. Die
       Formulierung zum Elbe-Aktiv-Platz auf der Sparliste ist doppeldeutig.
       „Standortoptimierung nicht möglich, da einzige Einrichtung. Fazit: Aufgabe
       der Einrichtung, 3. Priorität“, steht in dem inzwischen auch im Internet
       zugänglichen Geheimpapier, zu dem sich das Bezirksamt nicht äußert. Da in
       der daneben stehenden Spalte für Einsparungen eine Null steht, könnte dies
       auch heißen, dass die Einrichtung erst mal erhalten bleibt.
       
       „Ich bin dankbar, dass es den Platz hier gibt“, sagt Corinna Chachatté.
       „Wenn man den Platz schließen würde, dann wohl, weil das Grundstück so
       wertvoll ist.“ Sie ist Mutter eines siebenjährigen Jungen und hilft
       ehrenamtlich Kindern bei den Hausaufgaben. Einer Siebtklässlerin zum
       Beispiel, die in ihrem Matheheft gerade mit der Bedeutung vom doppeltem
       Minus kämpft.
       
       Kirill und Sascha zeigen stolz ihre Hütte, an der sie schon drei Jahre
       bauen. Der 1. Stock hat sogar einen Balkon, da müssen jetzt noch
       Seitenbretter dran. Auch Sascha geht auf eine Schule, die bis in den
       Nachmittag geht. Und doch ist dies für ihn kein Ersatz. „Hier kann man
       machen, was man will und lernt andere Kinder kennen“, sagt Kirill. Hier
       mischen sich Kinder verschiedener sozialer Schichten, aus Elbvororten und
       Hochhausgebieten.
       
       Ein pädagogischer Ziegenbock 
       
       Mittwochnachmittag, es regnet. Der Bauspielplatz Tweeltenmoor in Hamburgs
       Norden sieht auf den ersten Blick verlassen aus. Doch im großen Gruppenhaus
       ist was los. In der Küche kitzelt ein Junge seinen jüngeren Freund.
       Bedenklich? „Die haben ihren Spaß“, sagt Bauspielplatz-Leiter Georg
       Abschlag. Mädchen holen sich Reiterhelm und Gummistiefel, um auf die Weide
       zu gehen. Hier gibt es nicht nur Bauholz, Werkzeug und Feuer, hier gibt es
       Pferde, Esel und Ziegen. „Tiergestützte Pädagogik“, wie Abschlag erklärt.
       Die Tiere helfen, eine Beziehung zu den Kindern aufzubauen.
       
       Dann ereignet sich Dramatisches. „Wilma humpelt“, ruft ein Mädchen, das in
       die Hütte stürmt. Sie gehört zur Weidegruppe, ein Team von 14 Mädchen, die
       sich täglich um vier Ponys und vier Esel kümmern, sie pflegen und Reiten
       „für Kinder von Kindern“ anbieten. Ein Renner. Am Wochenende kommen bis 90
       Eltern mit ihren Kindern.
       
       Und dann sind da die Ziegen. Aus pädagogischen Gründen, um das Thema Geburt
       zu behandeln, wurde Charly, ein Ziegenbock angeschafft. Zwei Zicken haben
       vor einer Woche geworfen. Ein Ziegenbaby war tot, ein anderes lag einfach
       so auf der Erde, ohne dass Kinder und Betreuer wussten, wer die Mutter war.
       Aber drei Ziegenbabys leben. „Die sind so süß“, schwärmt ein neunjähriges
       Mädchen.
       
       „Wir haben es eine Woche rund um die Uhr gefüttert, morgens, mittags,
       nachts“, erklärt Abschlag. Am Wochenende übernahm eine Nachbarin, die
       früher selber Bauspielplatzkind war, die Pflege. Ihr Freund kommt vorbei.
       Er habe den Eindruck, das Kleine friere und will eine Wärmelampe für das
       Zicklein besorgen.
       
       Georg Abschlag ist Pädagoge mit Leib und Seele, erzählt und erzählt und
       berät nebenbei mit den Mädchen über den humpelnden Esel. Es sei wichtig,
       dass die Tiere nur kurz auf der Weide seien. „Sonst fressen die sich tot.“
       
       Esel Wilma trottet aus dem Stall. Abschlag lässt ein Mädchen die Hufe
       auskratzen und dann fühlen, ob der Fuß heiß ist. Wenn ja, könnte es eine
       Entzündung sein, dann muss der Tierarzt her. Derweil führen die anderen
       Mädchen die übrigen Tiere am Strick über die Weide. „Reiten geht heute
       nicht, dafür ist es zu nass“, erklärt Merle (13). Aber die Tiere brauchen
       Bewegung. Sie komme fast jeden Tag her, so früh es geht, sobald die
       Ganztagsschule zu Ende ist.
       
       Weiter hinten auf der Weide streiten zwei Mädchen, wer wie lange jede die
       Zügel halten darf. Es gibt Tränen. Um fünf Uhr ist Weidesitzung, da werden
       solche Konflikte besprochen. „Da geht es oft hoch her“, sagt Abschlag. „Die
       Kinder lernen, sich auseinanderzusetzen.“
       
       Auch dieser ganz besondere Platz am Rande einer Hochhaussiedlung ist von
       Kürzung bedroht. Aus dem Bezirk Nord sind aber noch keine Sparlisten
       bekannt. Die Rede ist von zehn Prozent. Der Bauspielplatz und der daran
       angeschlossene Jugendclub haben drei Stellen und ein Budget von 170.000
       Euro. „Wenn die uns 17.000 Euro kürzen, bricht uns das den Hals“, warnt
       Abschlag. Man müsste Honorarkräfte entlassen und Öffnungszeiten reduzieren.
       
       Die offene Kinder- und Jugendarbeit werde weiter dringend gebraucht. „Sie
       hat aber leider keine Lobby“, sagt Abschlag. Auch dieser „Baui“ kooperiert
       bereits mit Schulen, gibt gemeinsame Kurse. „Das ist aber ein anderes
       Arbeiten als wenn die Kinder über Jahre hier sind“, sagt er. „Hier gibt es
       keine Leistungsanforderungen. Wir vergeben keine Noten für das
       Hüttenbauen.“
       
       Im Altonaer Ausschuss durften die Jugendlichen am späteren Abend doch noch
       fragen, ob ihr Juca geschlossen wird. Sie erhielten aber keine Antwort. Es
       handele sich um vertrauliche Daten.
       
       7 Jun 2012
       
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   DIR Kaija Kutter
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