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       # taz.de -- Ukrainer in Berlin zur Fußball-EM: Wareniki statt Boykott
       
       > Die ukrainischen Berliner sind bereit für die EM in ihrer Heimat. Was sie
       > darüber denken und welche politischen Hoffnungen sie damit verbinden.
       
   IMG Bild: Der EM-Pokal in der Ukraine: Nicht alle finden das toll.
       
       BERLIN taz | Yaroslaw Lachowiecki schließt die Augen und geht noch mal
       zufrieden alles durch. Die Einladungen an 250 Bekannte: verschickt. Das
       Restaurant in Mitte: gebucht. Wareniki und Wodka: bestellt. Nur die
       Leinwand für das Public Viewing, die muss noch dringend angebracht werden.
       Lachowiecki ist vor vier Jahren aus Kiew nach Berlin gezogen und
       organisiert nun zur Eröffnung der Fußball-EM an diesem Freitag eine Feier
       im „Berlinoff“ in der Kronenstraße.
       
       Es ist die einzige größere Veranstaltung, mit der die ukrainische Gemeinde
       in Berlin zur Fußballmeisterschaft aufwartet. „Und ich will weder jetzt
       noch bei der Party über Timoschenko, Janukowitsch und wie sie alle heißen
       sprechen“, sagt der 33-jährige Veranstaltungsmanager höflich.
       
       Lachowiecki ist ein Energiebündel mit lachenden Augen, bunter Kleidung und
       einem Bart, in den Muster reinrasiert sind. „Fußball und Politik gehören
       nicht zusammen“, ergänzt er noch. Das Zögern in seiner Stimme verrät, dass
       er sich seiner Sache nicht ganz sicher ist. Und so redet er dann doch: Über
       den ukrainischen Präsident Viktor Janukowitsch, der die Demokratiebewegung
       in seinem Land torpediere. Über seine Freunde daheim, die nicht sonderlich
       stolz auf die EM seien.
       
       „Sie sind eher erleichtert, dass bald Touristen kommen. Das ist für sie ein
       Lichtblick in einem ansonsten repressiven Alltag“, sagt Lachowiecki.
       Exil-Ukrainer wie er hätten es da viel leichter, aus der sicheren Ferne
       Stolz über die Austragung der Meisterschaft in ihrer Heimat zu empfinden.
       Trotz der derzeitigen Kritik an der Ukraine.
       
       ## Kritik aus der EU
       
       Seit bekannt wurde, dass die frühere Ministerpräsidentin und heutige
       Oppositionsführerin Julia Timoschenko im Gefängnis malträtiert wurde,
       hagelt es Proteste gegen die Regierung Janukowitsch sowie
       EM-Boykott-Drohungen. Die Mitglieder der Europäischen Komission
       beschlossen, den Fußballspielen in der Ukraine fernzubleiben. Das
       Europäische Parlament protestierte gegen die „selektive Justiz“, mit der
       die ukrainische Opposition bedrängt werde, und forderte von Politikern,
       lediglich auf privater Basis zur EM in das Land zu reisen.
       
       Bundeskanzlerin Angela Merkel hat bis heute nicht entschieden, ob und wann
       sie die Spiele besuchen wird. Die Ukraine dominiert dieser Tage die
       Schlagzeilen mit Negativmeldungen.
       
       Das starke Medieninteresse hat überhaupt erst dazu geführt, dass sich Teile
       der ukrainischen Gemeinde in Berlin nun zum Public Viewing versammeln. Das
       ZDF hatte beim Zentralverband der Ukraine angefragt, wie die
       Hauptstadt-Community die EM feiert. „Weil der es nicht wusste, rief er bei
       mir an“, erzählt Partyplaner Lachowiecki. Doch es war gar nichts Größeres
       geplant. Und so organisiert er das Fest jetzt kurzerhand selbst, damit die
       Exil-Ukrainer eine Möglichkeit zur kollektiven Feier und die Fernsehleute
       etwas zu filmen haben.
       
       Nach einer EM-Party ist Olha Samborska allerdings nicht zumute. „Die
       Meisterschaft hätte nie an die Ukraine vergeben werden dürfen, denn trotz
       der orangenen Revolution hat sich am politischen System nicht viel
       geändert“, sagt die 44-Jährige. Für sie sind sowohl der Präsident als auch
       die Oppositionsführerin Oligarchen alter Schule, die mit zwielichtigen
       Deals die Wirtschaft beherrschen. Samborska war in den 1980er Jahren Teil
       der Protestbewegung in ihrem Land, sie demonstrierte und ging in
       Hungerstreiks für eine unabhängige, demokratische Ukraine.
       
       ## Es gibt keine verbindende Idee
       
       Umso größer ist dieser Tage ihr politischer Frust. In Berlin betreibt
       Samborska neben ihrer Arbeit als IT-Beraterin eine Website mit
       Informationen über ihre Heimat, die auch Berliner Ukrainer zusammenbringen
       soll. „Es gibt hier keine gut organisierte Community“, stellt Samborska
       fest, „keine Idee, die uns zusammenhält.“
       
       Insgesamt 8.496 Ukrainer leben laut statistischem Landesamt derzeit in
       Berlin, sind also offiziell registriert. Die tatsächliche Zahl dürfte höher
       liegen. In den vergangenen Jahren sind vor allem zahlreiche Studenten und
       IT-Fachkräfte in die Hauptstadt gekommen. „Die Berliner Diaspora
       interessiert sich nicht sonderlich für die Menschenrechte in ihrer Heimat“,
       beobachtet Olechandra Bienert.
       
       Die 29-Jährige zog vor sieben Jahren fürs Studium nach Berlin und leitet
       mittlerweile den Ukrainischen Kinoclub, der regelmäßig im Panda Theater auf
       dem Gelände der Kulturbrauerei stattfindet. „Wenn wir Dokumentationen über
       Kinderarbeit in illegalen Kohleschächten bei Kiew zeigen, kommen nur
       wenige.“ Vor einigen Tagen, als im Club Kurzfilme über Liebesbeziehungen
       liefen, mit viel Klaviermusik und Slow-Motion-Effekten, platzte der Laden
       dagegen aus allen Nähten.
       
       ## Boykott ist auch keine Lösung
       
       Bienert mit ihrer kräftigen Stimme und ihrem wachen Blick ist Aktivistin
       durch und durch. Während der orangenen Revolution ging sie in Kiew auf die
       Straße. Als Präsident Janukowitsch 2010 Berlin besuchte, organisierte sie
       vor seinem Hotel eine Demonstration für Pressefreiheit in der Ukraine. „Der
       Präsident schert sich kein bisschen um einen funktionierenden Rechtsstaat“,
       sagt Bienert, doch deswegen die EM zu boykottieren, sei absolut keine
       Lösung. Zu viel Steuergeld sei bereits in die Vorbereitung der
       Meisterschaft geflossen, die Stadien sind gebaut.
       
       Dort wird Bienert die EM-Spiele live verfolgen. Sie hat einen Wohnwagen
       gemietet und fährt damit auf Fußballtour durch ihre Heimat. „Ein Boykott
       ginge jetzt auf Kosten der Fans und der einfachen Leute in der Ukraine, die
       sich auf die Besucher freuen“, sagt sie. Dass die europäische Presse
       derzeit verstärkt über Folter und Korruption im Land berichtet, sei ein
       wichtiger Nebeneffekt der EM: „Hoffentlich gibt das Aufwind für die
       Initiativen vor Ort, die sich für eine funktionierende Zivilgesellschaft in
       der Ukraine einsetzen.“ Denn die sei bislang noch schwach auf den Beinen.
       
       Die Argumente gegen einen EM-Boykott wiederholen sich an den Stammtischen
       junger Ukrainer in Berlin und in Teilen der jüdischen Gemeinde. Viele
       zeigen sich zudem genervt von der Tatsache, dass sich die Boykottaufrufe
       maßgeblich auf die Situation der Oppositionsführerin Timoschenko stützen
       und die anderen politischen Häftlinge in der Ukraine darüber in
       Vergessenheit gerieten.
       
       Vitalij Veres geht mit seiner Kritik sogar noch weiter: „Diese plötzliche
       Empörung über Timoschenkos Haftbedingungen halte ich für heuchlerisch“,
       sagt Veres, der alle paar Monate den Ukraine Club betreibt, eine Art
       Russendisko für Ukrainer. „Wieso spricht man jetzt erst über die
       Menschenrechtsverletzungen im Land?“ Ohne die EM würden sie niemanden
       interessieren, ist er sich sicher. „Insofern ein Glück, dass es diese
       Meisterschaft gibt!“, sagt er. Gucken wird er sie trotzdem nicht. Denn
       Fußball, das sei nun wirklich nicht sein Ding.
       
       8 Jun 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Joanna Itzek
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