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       # taz.de -- Buch über rebellische Deutsche: Wir sind ok!
       
       > Alain Felkel führt in seinem Buch "Aufstand" durch 2.000 Jahre, um zu
       > zeigen: Die Deutschen sind eine rebellische Nation
       
   IMG Bild: Die Deutschen: Immer so rebellisch wie im Dezember 1989 in Leipzig?
       
       Deutsche, der: kreuzbrav, pflichtbesessen und unterwürfig bis zum eigenen
       Untergang ("Nibelungentreue"); liebt das Nörgeln, fürchtet den Konflikt;
       himmelt stets die Macht an (Churchill) und löst eine Bahnsteigkarte, ehe er
       zu umstürzlerischen Zwecken einen Bahnhof besetzt (Lenin). Etwa so könnte
       es in einem Lexikon nationaler Klischees heißen.
       
       Und doch: Bestätigen nicht allein regelmäßig hierzulande bestaunte
       Aufruhrmeldungen aus Frankreich wie jene über das "Bossnapping", dass die
       Deutschen heute noch arg obrigkeitshörig sind?
       
       Sie waren es nie, meint der Historiker und Drehbuchautor Alain Felkel in
       "Aufstand: Die Deutschen als rebellisches Volk". Neben Untertanen und
       Mitläufern biete die deutsche Geschichte ein "Sammelsurium
       freiheitsliebender Recken, gesellschaftlicher Utopisten und verwegener
       Bauernführer".
       
       ## Bastelei an der nationalen Identität
       
       War der Linken einiges daran gelegen, vergessenes dissidentes Tun
       auszugraben, um künftiges vorzubereiten, will Felkel "ein freiheitliches
       Selbstverständnis im Umgang mit der eigenen Historie und der nationalen
       Identität" herstellen. Die Botschaften aber sind ähnlich: Auch hierzulande
       haben kleine Leute Geschichte gemacht. Und: So unausstehlich sind wir
       nicht.
       
       Dass Felkel dabei subkulturelle und intellektuelle Avantgarden ignoriert –
       eine vertane Kür. Dass er den sozialrevolutionären Charakter der Nazis
       verkennt - ein Tribut an seine Mission. Dass er aus der zweiten Hälfte des
       20. Jahrhunderts mit dem 17. Juni 1953 und dem "sanften Umsturz" von 1989
       ausschließlich ostdeutsche Themen behandelt – vielleicht eine Reverenz an
       das wiedererwachte Begehren des konservativen Feuilletons, 1968ff. alle
       Legitimität abzusprechen.
       
       Diese Auslassung könnte man eingedenk des nervtötenden Geredes über den
       Rudi, die RAF & die ganze Rasselbande ja nachsehen – nicht aber das
       kunterbunte Allerlei, das der Autor stattdessen serviert: den slawischen
       Widerstand von 983 gegen die ostfränkische Expansion oder den
       antisemitischen Frankfurter Fettmilchaufstand von 1614 oder den
       Maschinensturm der schlesischen Weber im 19. Jahrhundert und die
       gescheiterte bürgerliche Revolution von 1848.
       
       ## Renitenz und Blamage
       
       Die zugrundeliegende theoretische Schwäche zeigt sich bereits im ersten
       Kapitel. Denn wer die deutsche Geschichte mit dem Cheruskerfürsten Arminius
       beginnen lässt, geht - da hilft keine Distanzierung – dem Hermann-Mythos
       auf den Leim. Denn tatsächlich fehlte es den germanischen Stämmen an jedem
       Nationalbewusstsein. Zum "deutschen Urknall", wie manch Historiker heute
       noch schwärmt, wurde die "Hermannsschlacht" erst durch die deutsche
       Nationalmythologie des 19. Jahrhunderts.
       
       Fatal an ihr war nicht die Verzerrung von Geschichte – keine
       Nationalmythologie, die ohne ausgekommen wäre. Fatal war ihre spezifische
       Note, nicht die Beseitigung von Tyrannei als Befreiung zu verstehen,
       sondern die Abwehr des Fremden. So findet auch Felkel für die Cherusker nur
       das befremdliche Lob, sie hätten um "ihre kulturelle Identität und
       ethnische Unabhängigkeit" gekämpft. Das bessere Leben aber war nicht in den
       national befreiten Wäldern nördlich des Limes zu haben, sondern in den
       germanischen Städten unter der Pax Romana.
       
       Die Auswahl ist disparat, die Summe bloße eklektizistische
       Aneinanderreihung unterschiedlicher Ereignisse. Von einigen verstreuten
       Stichworten abgesehen fehlt es an Schlussfolgerungen. Immerhin ist der
       Mangel an Abstraktion eine Stärke der Deskription.
       
       Als Einstiegslektüre eignen sich einzelne Kapitel durchaus, gerade das
       längste und überzeugendste, das von der Novemberrevolution 1918 handelt.
       Fernab der nationalistischen, kommunistischen oder bürgerlichen Legende um
       dieses Datum arbeitet Felkel heraus, dass es die Matrosen, Soldaten,
       Arbeiter und Kräfte links der Mehrheits-SPD waren, die eine demokratische
       Republik erkämpften.
       
       ## 
       
       Zugleich offenbart dieses Kapitel, warum Verfahren und Ziel, möglichst
       viele Renitenzgeschichten zusammenzuzählen, um die Deutschen zu einer
       allzeit freiheitsliebend-rebellischen Nation zu adeln, in einer Blamage
       enden müssen. Heute, so bedauert Felkel, verdränge die Erinnerung an den
       Mauerfall und die Pogromnacht das Andenken an die Novemberrevolution,
       obwohl "dieser erfolgreiche Umsturz die deutsche Gesellschaft am
       nachhaltigsten verändert" habe. Trotzdem seine "Nachhaltigkeit" keine 15
       Jahre währte, markiert der 9. November 1918 gewiss eine Zäsur der deutschen
       Geschichte.
       
       Der 9. November 1938 aber – verstanden als Chiffre für den NS – markiert
       eine Zäsur der Zivilisationsgeschichte. Hier wird klar, dass der
       marktschreierische Klappentext dem Buch kein Unrecht tut. "Die Deutschen",
       heißt es da, "sind ein Volk von Rebellen und Revolutionären, waren es schon
       immer, zu allen Zeiten, in allen Regionen, gegen mancherlei Herrschaft."
       Mancherlei. Im entscheidendsten Moment aber war es ihnen einerlei, haben
       sie versagt oder mitgemacht. Dieser Makel wiegt schwerer als allerlei
       Aufstände und Schlachtgetümmel zusammen.
       
       Alain Felkel: "Aufstand: Die Deutschen als rebellisches Volk". Gustav
       Lübbe, Bergisch Gladbach 2009, 608 S., 22,99 Euro
       
       2 Jan 2010
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Deniz Yücel
       
       ## TAGS
       
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