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       # taz.de -- Kinderarmut in Deutschland: Was fehlt tatsächlich?
       
       > Auch in den reichsten Ländern ist die Situation vieler Kinder prekär.
       > Unicef stützt seine neue Untersuchung auf 14 Indikatoren. Deutschland
       > liegt lediglich im Mittelfeld.
       
   IMG Bild: Ein Schulmädchen im Kinder- und Jugend-Projekt „Die Arche“ in Berlin-Hellersdorf (Archivbild 2006).
       
       BRÜSSEL taz | Die deutsche Regierung geht zu wenig gegen Kinderarmut vor.
       Das ist das Ergebnis einer internationalen Studie, die das Kinderhilfswerk
       Unicef am Dienstag in Brüssel vorgestellt hat. Demnach leben in Deutschland
       rund 2,5 Millionen Kinder in Armut oder müssen auf grundlegende Güter wie
       regelmäßige Mahlzeiten oder Freizeitaktivitäten verzichten. Damit liegt
       Deutschland nur im Mittelfeld von insgesamt 29 europäischen Ländern und
       schneidet deutlich schlechter ab als zum Beispiel Dänemark oder Schweden,
       obwohl diese Länder auf ähnlichem wirtschaftlichem Niveau liegen.
       
       „Es ist enttäuschend, dass Deutschland es nicht schafft, die materiellen
       Lebensbedingungen für Kinder entscheidend zu verbessern“, sagte Christian
       Schneider, Geschäftsführer von Unicef Deutschland. Auch einer der Verfasser
       der Studie, Gordon Alexander vom Unicef-Forschungszentrum in Florenz,
       kritisierte die Bundesregierung: „Kinderarmut gehört nicht zu den
       Prioritäten in Berlin. Sie wird so nebenbei mitbedacht. Aber es kann sich
       nur etwas ändern, wenn sie in den Fokus der Politiker rückt. Daran fehlt es
       in Deutschland“, sagte er in Brüssel. Als ein konkretes Beispiel nannte er
       die nach wie vor „unzureichende“ Kinderbetreuung. Vor allem Kinder
       alleinerziehender und arbeitsloser Eltern sind in Deutschland daher von
       Armut betroffen.
       
       Das Kinderhilfswerk hat in seinem Bericht zwei verschiedene Messverfahren
       für Kinderarmut angewendet. Zum einen schauten sich die Wissenschaftler die
       Einkommensarmut an: Als arm gelten Kinder aus Haushalten, die weniger als
       50 Prozent des nationalen Durchschnittseinkommens zur Verfügung haben. In
       Deutschland sind das rund 1,2 Millionen. Besonders schlecht schneiden
       Rumänien und die Vereinigten Staaten von Amerika ab. Dort liegt die
       relative Kinderarmut bei mehr als 20 Prozent.
       
       ## 14 Indikatoren
       
       Erstmals stützt Unicef seine Untersuchung aber nicht nur auf diese
       klassische Definition von Armut. Das Kinderhilfswerk hat darüber hinaus 14
       Indikatoren von Dingen entwickelt, die Kinder zum Leben brauchen. Dazu
       gehören regelmäßige Mahlzeiten, Zeit und Raum für Hausaufgaben, ein
       Internetanschluss, altersgerechte Bücher und Spielsachen, Geld für
       Schulausflüge, mehr als zwei Paar Schuhe oder die Versorgung mit Obst und
       Gemüse. Wer auf mehr als zwei dieser Kriterien verzichten muss, gilt als
       arm. Daran errechnet sich, was Unicef den „Deprivationsindex“ nennt (siehe
       [1][Grafik]).
       
       „Wir wollten wissen, wie die Kinder konkret leben und was ihnen tatsächlich
       fehlt. Auch in armen Haushalten können Kinder ausreichend versorgt werden“,
       sagte Gordon Alexander. Rumänien, Bulgarien und Ungarn schneiden dabei
       besonders schlecht ab. In Deutschland muss immerhin jedes elfte Kind auf
       mehr als zwei Dinge aus der Unicef-Liste verzichten. Am häufigsten fehlen
       Kindern in Deutschland regelmäßige Freizeitaktivitäten (6,7 Prozent). Knapp
       5 Prozent müssen auf eine warme Mahlzeit am Tag verzichten und 4,4 Prozent
       der befragten Kinder haben keinen Platz, um ihre Hausaufgaben in Ruhe zu
       erledigen.
       
       ## „Keine Entschuldigung“
       
       Ein Grund für das relativ schlechte Abschneiden der Bundesrepublik sehen
       die Verfasser der Studie in der Struktur der Gesellschaft. In Deutschland
       leben zum Beispiel relativ mehr Migrantenkinder als etwa in den
       Niederlanden. „Trotzdem kann das keine Entschuldigung sein. In unseren
       reichen Ländern sollte kein Kind auf die Befriedigung seiner
       Grundbedürfnisse verzichten müssen“, sagte Gordon Alexander. Immerhin
       schaffe es Deutschland, die Kinderarmut mit Sozialleistungen und
       Steuererleichterungen für Familien von eigentlich 17 auf 8,5 Prozent zu
       senken.
       
       Damit ist die BRD eines von nur zehn Ländern, in denen Kinderarmut
       niedriger ist als die Armut von Erwachsenen. Außerdem sei sie im Vergleich
       zu 2005 von 10,2 auf 8,5 Prozent gesunken, während sie in vielen anderen
       Ländern im gleichen Zeitraum leicht gestiegen ist. Allerdings könnte
       Deutschland auch in diesem Punkt noch mehr tun: Irland, Ungarn und
       Großbritannien schaffen mit staatlichen Hilfeleistungen viel mehr.
       
       Die Verfasser der Studie befürchten, dass die Kinderarmut durch die harten
       Sparprogramme in vielen EU-Ländern nun noch verstärkt wird. „Gerade in
       Irland und Großbritannien, die bisher zu den besten Ländern gehörten,
       sparen die Regierungen nun an den falschen Stellen. Wir gehen davon aus,
       dass die Kinderarmut dort wieder zunehmen wird“, sagte Alexander.
       
       Insgesamt sei es schwierig, Kinderarmut verlässlich zu messen. Viele Länder
       würden keine ausreichenden Daten zur Verfügung stellen. Die Studie stützt
       sich unter anderem auf eine Befragung der EU von 2009, in der 125.000
       Haushalte untersucht worden sind, sowie auf Zahlen der Organisation für
       wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).
       
       30 May 2012
       
       ## LINKS
       
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