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       # taz.de -- Ökologe Loske über Wachstumsalternativen: Alle reden vom Ende – er auch
       
       > Der grüne Politiker und Ökologe Reinhard Loske sucht nach einer
       > „Gesellschaft ohne Wachstumszwang“. In seinem Buch beschreibt er
       > Transformationsprozesse jenseits eines Booms.
       
   IMG Bild: Eine wachsende Minderheit probiert moderne Subsistenzwirtschaft aus: Urbanes Gärtnern im Gemeinschaftsgarten in Hannover.
       
       Mal ehrlich: Darf man glauben, dass unsere große Wohlstands- und
       Wachstumsshow nach der Finanz- und Eurokrise genauso weitergeht wie vorher?
       
       CDU-Kanzlerin Angela Merkel sagt Ja. Linke und linksliberale Ökonomen wie
       Heiner Flassbeck, Paul Krugman, Joseph Stiglitz, selbst Investoren wie
       George Soros sagen auch Ja – mit dem wichtigen Zusatz: „wenn Merkel das
       Richtige täte“. Darunter verstehen sie etwa, die öffentliche Verschuldung
       zu erhöhen, um mit dem Geld das Wachstum am Laufen zu halten. Und dank
       Wachstum kann man dann die Schulden wieder verringern.
       
       Das mag man glauben. Oder auch nicht. Denn seit Jahrzehnten nimmt die
       Wachstumskraft der Industriegesellschaften ab. Waren in den fünfziger
       Jahren 5 Prozent pro Jahr normal, darf man sich gegenwärtig freuen, wenn
       Deutschland um 1,5 Prozent wächst. Dieser Trend gilt für viele der alten
       Industriestaaten. Aus den Schulden rauswachsen funktioniert nicht mehr,
       wenn die Wirtschaft grundsätzlich träger wird.
       
       „In Anlehnung an Marx könnte man vom tendenziellen Fall der Wachstumsrate
       sprechen“, sagt Reinhard Loske, im hellen Hemd, mit Sonnenbrille vor einem
       Café am Zionskirchplatz in Berlin sitzend. Loske macht mehr oder weniger
       Pause von der Politik. Von 1998 bis 2007 saß er für die Grünen im Bundestag
       und war dort einflussreicher Umweltpolitiker. Dann wechselte er nach
       Bremen, wo er bis vergangenes Jahr als Umweltsenator der rot-grünen
       Landesregierung amtierte. Jetzt arbeitet er als selbstständiger Berater
       unter anderem im Auftrag der staatlichen deutschen Entwicklungsorganisation
       GIZ und der genossenschaftlichen GLS-Bank.
       
       Außerdem ist er Publizist, der nicht mehr an das Perpetuum mobile des
       Wirtschaftswachstums glaubt. Im Herzen schmerzt Loske, Jahrgang 1959, die
       Zerstörung der Umwelt durch den globalen industriellen Raubbau, was sich am
       augenfälligsten im menschenverursachten Klimawandel niederschlägt. Aber es
       geht ihm um mehr. Ihn treibt ein tiefes Unbehagen an den menschlichen,
       sozialen, ökonomischen und politischen Kosten des ewigen quantitativen
       Mehr.
       
       2010 erschien sein Essay „Abschied vom Wachstumszwang – Konturen einer
       Politik der Mäßigung“. Seinen Kritikern antwortet er nun mit dem
       88-Seiten-Bändchen „Wie weiter mit der Wachstumsfrage?“. Alleine das ist
       schon mal angenehm. Loske ignoriert die Gegenargumente nicht oder bügelt
       sie ab. Er nimmt sie ernst, wenngleich ihm natürlich immer ein passendes
       Widerwort einfällt. Trotzdem bringt dieses Verfahren den Diskurs über eine
       existenzielle Frage voran. Das Buch ist wohltuend offen und unideologisch.
       
       ## Produktionsverlagerung
       
       Ein Beispiel: Wer die Klimaschäden der industriellen Produktionsweise
       kritisiert, hört oft das Gegenargument der Entkopplung. Es lautet, man
       könne das Wachstum weiter steigern, gleichzeitig aber weniger Energie
       verbrauchen und Kohlendioxid ausstoßen. Die EU 27 seit 1990 wird gerne als
       Beispiel genannt. Darauf antwortet Loske: Stimmt nur vordergründig. Denn
       ein guter Teil der dreckigen Produktion, die früher in Europa angesiedelt
       war, findet jetzt in China statt. Weswegen die CO2-Emissionen dort und
       global auch weiter steigen – zwar nicht so stark wie das weltweite
       BIP-Wachstum, aber von absoluter Entkopplung könne keine Rede sein.
       
       Aber wäre es nicht möglich, Ökologie und Ökonomie zu versöhnen, indem immer
       mehr sparsame Technik eingesetzt wird? Dieses „technikoptimistische
       Gegenargument“ weist Loske ebenso zurück. Sein Punkt: Der ökologische
       Effizienzgewinn wird durch Mengenwachstum überkompensiert. Mehr sparsame
       Autos verbrauchen mehr Benzin als wenige Spritschlucker. Die Fachleute
       nennen das den „Reboundeffekt“.
       
       Loskes politische Konsequenz lautet nun, dass weder die nachhaltige
       Industriepolitik der SPD noch der Green New Deal, das Wirtschaftsprogramm
       der Grünen, Wachstum und Umweltschutz in Einklang bringen können. Zur
       Position seiner Partei und besonders der von Ralf Fücks, dem Chef der
       grünen Heinrich-Böll-Stiftung, merkt Loske an, die Strategie des
       sogenannten nachhaltigen Wachstums sei partiell blind gegenüber ihren
       eigenen Folgen. Es bestehe die Gefahr, nur diejenigen Umweltschutzmaßnahmen
       umzusetzen, die Wachstum förderten, nicht aber solche, durch die
       industrielle Aktivitäten eigentlich eingeschränkt werden müssten.
       
       Die Abwrackprämie von 2009 bescherte der Autoindustrie beispielsweise eine
       Sonderkonjunktur. Damit ging auch ein gewisser ökologischer Effekt einher,
       weil alte Fahrzeuge mit hohem Benzinverbrauch aus dem Verkehr gezogen
       wurden. Eine tatsächlich nachhaltige Verkehrspolitik allerdings, meint
       Loske, sollte die Zahl der Autos verringern und andere Arten von Mobilität,
       etwa den öffentlichen Verkehr, fördern. Dies jedoch würde der Umsatz- und
       Gewinnsteigerung der Autoindustrie Grenzen setzen und geriete in Konflikt
       zur Wachstumspolitik der Regierung – deshalb lasse man es lieber.
       
       ## Destruktive Züge
       
       Der Essayist bewegt sich im breiter werdenden Fluss der Wachstumskritik,
       die mit der Finanzkrise ab 2007 einen neuen Schub erhalten hat. Seitdem
       sind Dutzende Bücher zum Thema erschienen – von Konservativen, Linken
       ebenso wie von Unternehmern und Wissenschaftlern. Ihr gemeinsamer Nenner
       ist die These, dass der permanente Versuch materieller Wohlstandsmehrung
       nicht nur ökologisch, sondern auch wirtschaftlich und sozial zunehmend
       destruktive Züge trage. Im Rahmen dieser Debatte bieten Loskes Überlegungen
       einen mindestens zweifachen Mehrwert.
       
       Zum einen wählt der Autor die Perspektive der Transformation. Er sieht die
       industriellen Gesellschaften in einer Übergangsphase, in der sie
       Fortschritt, Wohlstand und Glück anders zu definieren beginnen als früher.
       Diese Konzeption schafft zweitens Raum für innovative politische
       Handlungsoptionen. Loske plädiert dafür, Wachstumstreiber zu identifizieren
       und darauf zu drängen, ihre Wirkung zu verringern. Er regt an, punktuell
       neue Verfahren einzuüben, ohne gleich alles über den Haufen zu werfen.
       
       Dabei kommt es ihm auch auf technische, besonders jedoch auf soziale und
       politische Innovationen an. Loske setzt sich dafür ein, bürgerschaftliche
       Aktivitäten zu unterstützen, die Arbeit, Produktion und Konsum dem Markt
       entziehen oder mindestens die ressourcenverschlingende marktwirtschaftliche
       Dynamik hemmen.
       
       Loske nimmt die urbanen Gemeinschaftsgärten, die Bürger in Berlin und
       anderen Großstädten betreiben, als Beleg dafür, dass eine wachsende
       Minderheit moderne Subsistenzwirtschaft ausprobiert. Neue Produkte in
       Geschäften mittels anderswo verdienter Euro zu kaufen wird ersetzt durch
       Eigenarbeit, die dann auch gleich einen gewissen Teil der sonst notwendigen
       Lohnarbeit überflüssig macht. Manche Bürger scheinen diese Form der
       Genügsamkeit auch deshalb zu schätzen, weil sie es als angenehm empfinden,
       Zeit gemeinschaftlich produktiv zu verbringen. Ein starker Punkt: Jenseits
       von Lohnarbeit, Konsum und Wohlstandssteigerung mag Suffizienz neue
       Lebensqualität schaffen. Auch in Tauschringen, Alternativwährungen und
       Gemeinschaftswerkstätten findet der Autor solche neuen, nicht im
       herkömmlichen Sinne marktförmigen Wirtschaftsweisen.
       
       Aber er ist so ehrlich, Subsistenz, Suffizienz und Entschleunigung nicht
       hochzujubeln, sondern auch ihre schwierige Seite zu benennen – den
       Verzicht. Wer weniger im formellen Sektor arbeitet und mehr selbst macht,
       kauft nicht. Eine Gesellschaft, die weniger Autos produziert, hat
       möglicherweise ein geringeres zusätzliches Sozialprodukt zu verteilen.
       Weniger Wachstum, Stagnation oder gar Schrumpfen würde bedeuten, dass wir
       alle unsere materiellen Ansprüche nicht aus einem Mehr, sondern aus einem
       Weniger bestreiten müssten.
       
       Verzicht ist das eine. Das zweite Problem ist aber mindestens ebenso
       relevant. Schon unter den Bedingungen von gesamtwirtschaftlichem Zuwachs
       ist es extrem kompliziert, gefühlte Gerechtigkeit innerhalb einer
       zeitgenössischen Bevölkerung herzustellen. Wie soll das erst funktionieren,
       wenn das BIP sinkt? Werden sich dann die Unternehmen mit 1,5 Prozent
       Gewinnmarge zufriedengeben statt mit 6, 10 oder 20 Prozent? Kaum
       vorstellbar.
       
       Was Reinhard Loske hört, ist sehr leise Zukunftsmusik. Wahrscheinlich ist
       es aber gut, sich mit Rhythmus und Tonlage schon mal zu beschäftigten.
       Diese Weisen werden in den kommenden Jahrzehnten lauter werden.
       
       Reinhard Loske: „Wie weiter mit der Wachstumsfrage?“. Basilisken-Presse,
       Rangsdorf 2012, 88 Seiten, 14 Euro
       
       29 May 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Hannes Koch
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
       
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