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       # taz.de -- Eurovision Song Contest entschieden: Europe's watching you
       
       > Klar gewinnt die Schwedin Loreen den Eurovision Song Contest. Roman Lob
       > schafft den achten Rang. Und Anke Engelke überzeugt mit einem deutlichen
       > Statement.
       
   IMG Bild: Makabre Selbst-Inszenierung: Emin Agalarov, der Schwiegersohn des aserbaidschanischen Präsidenten schwebt vom Himmel auf die Bühne.
       
       BAKU taz | Ach, wär' doch Anke Engelke nicht. Sie, die voriges Jahr schon
       beim Eurovision Song Contest in Düsseldorf auf drei Bühnen moderierte,
       vergab nicht nur von der Reeperbahn die deutschen Punkte – sondern erteilte
       den aserbaidschan Gastgebern noch eine supercharmant vorgetragene Mahnung.
       Und das vor einer Öffentlichkeit, die bei etwa 125 Millionen Zuschauern
       gelegen haben dürfte. So sagte sie auf Englisch: „Heute Abend konnte
       niemand für sein eigenes Land abstimmen. Aber es ist gut, eine Wahl haben
       zu können. Und es ist gut, eine Wahl zu haben. Viel Glück auf Deiner Reise,
       Aserbaidschan! Europa beobachtet Dich! Und hier sind die Ergebnisse der
       deutschen Jury…“
       
       Europe's watching you – netter hätte die vor allem aus Deutschland kommende
       Kritik an Verhaftungen von Demonstranten, an Gewalt gegen die
       Menschenrechtler kaum verpackt werden können. Angelke teilte ein
       politisches Credo aus: Ihr wart bestimmt gute Gastgeber für das Ausland,
       aber wir behalten euch im Blick für die Zukunft, was die
       Demokratietauglichkeit anbetrifft.
       
       Ob das – bis auf den Kommentator der BBC in Baku, Graham Norton, der auf
       das Statement der deutsche Punktemitteilerin gleich sympathisierend einging
       – irgendwer sonst in Europa verstanden hat, kann bezweifelt werden: Der
       Diskurs um Demonstrationsfreiheit wurde nicht in vielen Ländern Europas
       mitgetragen.
       
       Es wird auch nicht den meisten aufgefallen sein, dass in der Pause zwischen
       den Liedern und der Punktevergabe, dem Intervall-Act, ein männlicher
       Angehöriger der Alijew-Präsidentenfamilie ein Lied sang – Pop von der
       Stange, aber dass er das überhaupt durfte und dieses Geschmäckle obendrein
       verbreitete: rätselhaft. So oder so: Eine aus dem Tross der
       ESC-AspirantInnen hat getan, was sie tun wollte. Und sie war die wahre
       Königin dieser Bakür ESC-Nacht: Loreen aus Schweden.
       
       Sie war aus dem Feld der ESC-Chanteusen und –Entertainer die einzige, die
       sich in der Woche der Proben auf die Anliegen der Menschenrechts-NGOs
       eingelassen hatte, deren Büro besuchte, sich deren Anliegen schildern ließ.
       Aber ihr Lied – „Euphoria“?
       
       ## Warmes Hintergrundblau
       
       Die noch während der Proben in der Crystal Hall viel zu dunkel wirkende
       Inszenierung ihres Liedes wurde auf Geheiß der Sängerin zum Finale des 57.
       Eurovision Song Contest noch in ein warmes Hintergrundblau getaucht – jetzt
       wirkte Loreen wirklich wie aus einem Märchen, in dem sie zur großen Freude
       aufbrechen möchte.
       
       Mit „Euphoria“ gelang ihr das nun auch tatsächlich. Loreen, deren Eltern
       aus Marokko nach Skandinavien auswanderten, siegte haushoch mit 372
       Punkten, fast so viele, wie vor drei Jahren der Norweger Alexander Rybak
       erhielt, mehr als Lena vor zwei Jahren, die ihren Sieg mit 246 Zählern
       errang.
       
       Diese Siegerin war der eurovisionaere Konsens schlechthin; aus 18 Ländern
       erhielt sie volle Punktzahl (12), nur Italien übersah Loreen komplett. Auf
       dem zweiten Platz landeten die Großmütter aus Russland für ihren etwas
       makaber-trivialen Discosong „Party for Everybody“ (259), Dritter wurde der
       Serbe Zeljko Joksimovic (214). Auf dem achten Platz landete der deutsche
       Kandidat Roman Lob, der 110 Punkte zuerkannt bekam.
       
       Überraschend belegte der Brite Engelbert Humperdinck, 76 Jahre, mit „Love
       Will Set You Free“ nur den vorletzten Platz. Obwohl seinem Lied im Vorfeld
       des Popfestivals mit das größte kommerzielle Potential attestiert wurde,
       eignete es sich offenbar nicht für einen Abend unter Wettbewerbs- und
       Abstimmungsbedingungen.
       
       Die Veranstalter, das aserbaidschanische Fernsehen von Ictimai TV im
       Auftrag der European Broadcasting Union, die sich die Show von der
       deutschen TV-Firma Brainpool produzieren ließ, können zufrieden sein. Der
       EBU zufolge guckten am Samstag 125 Millionen Menschen in 46 Ländern die
       Show. In Deutschland schalteten im Schnitt 8,29 Millionen Zuschauer ein –
       5,5 Millionen weniger als noch im vergangenen Jahr bei der Übertragung aus
       Düsseldorf.
       
       ## PR-Desaster für die Alijews
       
       Ob die regierende Familie Alijew ebenfalls zufrieden war, steht dahin:
       Mutmaßlich hat sie sich lieber einen ESC gewünscht, bei die
       Berichterstatter neben dem Glamour mehr auf die Kunst der Säkularisierung
       der Religionen, vor allem des Islam, eingegangen wären, hätte sich beglückt
       gefühlt, wenn der ESC als Werbeplattform die ökonomischen Fortschritte
       Aserbaidschans in helles Licht getaucht hätte. Aber da die Regierenden in
       Baku offenbar keine Ahnung von der negativen Kraft haben, die TV-Bilder
       voller Gewalt im Westen besitzen, knüppelte man auf die doch recht wenigen
       Demonstrationen auch noch recht telegen ein. Ein PR-Desaster
       sondergleichen!
       
       Nebenbei fast ging es für alle Länder ja auch um nationale
       Befindlichkeiten. Norwegens Tooji mit seiner seltsamen Tanznummer „Stay“
       wird sich von Oslo bis Hammerfest anhören müssen, dass er den Reigen der
       letzten Plätze für Norwegen um einen Zähler erweitert hat: Schon wieder das
       Allerletzte.
       
       Roman Lob hingegen zeigte sich nach seinem Auftritt erleichtert, ja
       glücklich. Achter Platz – „das ist mehr, als ich selbst dachte, und so ist
       das toll fuer mich und mein Land“, sagte er. Ob er in der großen Arena mehr
       Lampenfieber verspürte als bei seinem Sieg beim nationalen Vorentscheid
       „Unser Star fuer Baku“ im Februar, beantwortete er verblüffend: „Nein,
       ruhiger. Viel ruhiger.“ Er habe sich die ganzen Tage in Aserbaidschan in
       guter, ansteigender Form befunden.
       
       Ob er, wie Lena, ein zweites Mal antreten werde, wollte er nicht
       beantworten. Wahrscheinlich ist das nicht: Lena Meyer-Landrut trat ja nur
       deshalb neuerlich als Titelverteidgerin an, weil sie als Siegerin keinen
       Nimbus einzubüßen hatte.
       
       „Unser Star fuer Baku“-Jurychef Thomas D von den Fantastischen Vier teilte
       ebenfalls seine Zufriedenheit mit – hinter Schweden, den Siegern, sei
       Deutschland das beste Land des Westens beim ESC gewesen. Eine ambivalente
       Rechnung: Beim ESC wird gewöhnlich unterschieden zwischen Ländern, die
       schon vor dem Fall des Eisernen Vorhangs mitmachten und solchen, die erst
       nach Auflösung des realsozialistischen TV-Netzwerks Intervision ab 1993
       hinzukamen – insofern war nach dieser West/Ost-Rechnung Deutschland
       drittbestes Land. Auf dem siebten Rang nämlich landete der türkische
       Performer Can Bonomo. Die Türkei nimmt am ESC seit 1974 teil.
       
       ## Live-Labor des Event-Fernsehens
       
       Und die Show selbst? Wie immer bemerkenswert. Eine Show, bei der das
       Fernsehen sich und seine technischen Möglichkeiten wie im Live-Labor
       ausprobierte. Pyromanische Inszenierungen, Windmaschinen in allen
       Orkanstärken, Mikrofonegalizer, die niemanden hat schief und schal singen
       lassen. Eine Kaskade an Sammelsurischem einerseits. Andererseits, weil es
       diese jedes Jahr gibt, eben auch ein hartes Feld, das nur die Besten nach
       oben spült. In diesem Fall: Loreen, die mit ihrem „Euphoria“ vermutlich
       einen feinen Radiohit vor allem im westlichen und nördlichen Europa haben
       wird.
       
       Für Schweden war es der fünfte Sieg bei einem ESC – angefangen mit Abba
       1974, gefolgt von den Herrey’s 1984, Carola 1991 und Charlotte Nilsson
       1999. Loreen gehört in Schweden zur Riege der jungen Popstars. Nach Angaben
       von Christer Björkman, Kopf des schwedischen ESC, war Loreen bereits bei
       ihrem Sieg in der Vorentscheidung im März in Stockholm der Beweis, dass mit
       schlageresker Ästhetik kein Blumenpott mehr zu gewinnen sei.
       
       Der nächste ESC wird am 18. Mai 2013 in Stockholm stattfinden, in einer neu
       erbauten Fußballarena vor denn mutmaßlich 40.000 Hallenzuschauern.
       
       Jan Feddersen, taz-Redakteur, Jahrgang 1957, schreibt als Journalist und
       Buchautor („Wunder gibt es immer wieder“) seit 1989 über den ESC. Er bloggt
       auch auf eurovision.de für die ARD.
       
       27 May 2012
       
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