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       # taz.de -- Exklusion statt Inklusion: Rauswurf von der Regelschule
       
       > Ein autistisches Kind soll nach einer Rangelei die Schule verlassen.
       > Seine Mutter wehrt sich: Wäre der Junge gefördert worden wie vorgesehen,
       > gäbe es keine Probleme.
       
   IMG Bild: Darf gerade nicht in seine 5. Klasse: Inklusionsschüler John, hier mit seiner Mutter.
       
       In seinem Zimmer hat John* eine Lego-Landschaft aufgebaut. Er sammelt
       Fußballbildchen, liest gerne Comics und interessiert sich für die alten
       Römer. Ein ganz normaler Junge also. In seine 5. Klasse darf der 10-Jährige
       zurzeit nicht, höchstens in einer 8. Klasse dabeisitzen und malen. So hat
       es die Klassenkonferenz am Montag beschlossen. Und nach den Ferien soll er
       ganz runter von der Stadtteilschule Sinstorf.
       
       John leidet am Asperger-Syndrom, einer Form von Autismus. „Man schlug vor,
       er solle entweder auf eine Schule für Körperbehinderte oder in ein
       Schulschwänzerprojekt“, berichtet Johns Mutter, Corinna S. Damit sei sie
       aber nicht einverstanden. „Er hat in der Klasse zum ersten Mal in seinem
       Leben zwei gute Freunde gefunden.“
       
       Mit denen spielte er vergangen Woche auch im Gruppenraum Kissenschlacht.
       Ein Junge sei dazu gekommen, habe ihn als „Psycho“ beschimpft, erzählt
       John. Das habe der schon öfter gesagt. „Ich bin ausgerastet und hab ihn zu
       Boden geschlagen.“ Das andere Kind erlitt eine Gehirnerschütterung.
       
       „Schlimme Sache“, sagt S. Die Konsequenzen, die die Schule zog, findet sie
       aber falsch. Seit im März die Asperger-Diagnose kam, bemüht sich die Mutter
       um eine Schulbegleitung: Darauf haben Kinder wie ihr Sohn Anspruch – und
       können dann, sagt die Autismus-Beratungstelle, in einer normalen
       Schulklasse bleiben. Nötig ist zur Bewilligung ein Gutachten, den Termin
       dafür haben sie nächste Woche.
       
       „Autisten, bei denen geht was anderes in den Köpfen vor“, erklärt John.
       „Sie können Ironie und Witze nicht verstehen.“ Er komme in kleinen Gruppen
       gut zurecht, in größeren Klassen sei es oft schwieriger. „Da kann ivh keine
       Aufgaben mehr lösen, muss Quatsch machen.“ Auch er sei schon Mitschülern
       geschlagen worden und möchte trotzdem in seine Klasse zurück, sagt John: An
       dem Tag, an dem er nur in die 8. durfte, habe er in der Pause mit seinen
       Klassenkameraden gesprochen. „Die fanden das auch ungerecht.“
       
       Corinna S. hat sich juristisch beraten lassen – und will sich die Sache
       nicht gefallen lassen. Laut Hamburger Schulgesetz haben Kinder wie John ein
       Recht auf den Besuch einer normalen Schule. Die in Sinstorf habe sich ja
       „bemüht“, sagt S. „Mein Kind ist schwierig, ich kann die Lehrer verstehen.“
       Aber John habe bisher nicht die für Autisten nötige Förderung erhalten.
       Auch gebe es zu wenig Personal für die vier „Integrationskinder“ in der
       Klasse. In der Woche, in der sich die Sache zutrug, „war dort bis auf zwei
       Stunden nur eine Kraft“.
       
       Die Schulbehörde bleibt hart. „Wir suchen mit Mutter und Sohn eine Lösung“,
       sagt Sprecher Peter Albrecht. Eine Regelbeschulung sei aber „weder im Sinne
       des betreffenden Schülers noch der Mitschüler“. Der Junge habe sich als
       gefährlich eingeschätzt und gesagt, er könne nicht garantieren, dass es
       nicht wieder zu Aggressionen komme. Und nach dem
       Ordnungsmaßnahmen-Paragrafen 49 kann die Schule ihn vorübergehend
       ausschließen. Die Frage nach einem Schulbegleiter sei „kompliziert“, so
       Albrecht: Die Familie wohnt in Niedersachsen, wo es für derlei nur geringe
       oder gar keine Ressourcen gebe.
       
       Man dürfe autistische Kinder nicht von der Störung her betrachten, sagt
       Martin Eckert von der Elterninitiative Leben mit Behinderung, „sondern von
       ihrem Förderbedarf her“. In Hamburg sei es gelungen, solche Kinder gut ins
       gemeinsame Lernen einzubeziehen. „Einige gehen aufs Gymnasium“, weiß
       Eckert. Für die nötige Schulbegleitung zu sorgen, sei Sache der Schule.
       
       „Der Junge ist erst zehn, der braucht Hilfe“, sagt Corinna S. Die
       Schulbegleitung würde das Land Niedersachsen bezahlen. „Die sollen meinen
       Sohn nur in der Schule lassen.“ Die Hamburger Schulbehörde dramatisiere die
       Aussagen ihres Sohnes übermäßig: „Er würde sich nie als gefährlich
       einschätzen“, ist sich die Mutter sicher. „Ich habe nur gesagt, dass es
       vielleicht wieder passiert“, sagt John. „Ich kann ja nicht die Zukunft
       voraussehen.“
       
       *Name geändert
       
       25 May 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kaija Kutter
   DIR Kaija Kutter
       
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