URI: 
       # taz.de -- Streitthema Gentrifizierung: Eine Frage der Definition
       
       > Gentrifizierung ist vom Fachterminus zum politischen Schlagwort geworden.
       > Doch nicht jeder meint das Gleiche, wenn er davon spricht.
       
   IMG Bild: Touristen gelten als Gradmesser, wie weit die Gentrifizierung fortgeschritten ist.
       
       In Neukölln gibt es keine Gentrifizierung, stellte eine Studie im Auftrag
       des Senats kürzlich fest. Doch was Gentrifizierung ist, kann sehr
       unterschiedlich gesehen werden.
       
       Gentrifizierung – auf Englisch gentrification – war noch vor wenigen Jahren
       ein akademischer Fachbegriff. Heute werden unter diesem Label politische
       Debatten und Serien in allen größeren Medien geführt. Benutzt wurde der
       Begriff erstmals von der Forscherin Ruth Glass. Sie leitete ihn von dem
       englischen Wort gentry ab, dem vornehmen Bürgertum, und benannte damit die
       Tendenz, dass sich ab den 70ern des vergangenen Jahrhunderts zunehmend
       wieder wohlhabende Schichten die einstmals bürgerlichen Altbauviertel in
       den Innenstädten „zurückeroberten“.
       
       Gentrifizierung wird häufig mit dem (Wieder-)Entstehen innerstädtischer
       bürgerlicher Quartiere mit hoher Mieten und einer wohlhabenden
       Einwohnerschaft gleichsetzt, manche Medien sprechen von „Yuppisierung“. Ein
       klassisches Beispiel ist etwa der Prenzlauer Berg.
       
       Viele Stadtsoziologen kritisieren eine solche Definition als verkürzt
       (siehe Interview). Für sie bezeichnet Gentrifizierung weniger den Zustand
       eines Viertels als vielmehr einen Prozess von Aufwertung und Verdrängung,
       dessen Akteure und Verlauf sich je nach Viertel unterscheiden können.
       Klassischerweise verläuft ein solcher Aufwertungszirkel in mehreren Phasen:
       In der Pionierphase ziehen vor allem KünstlerInnen und StudentInnen, eben
       sogenannte Pioniere, in ein Gebiet, das günstige Mieten und freistehende
       Gewerberäume, zugleich den Charme von Altbauviertel und alternativer
       Lebenskultur bietet.
       
       ## Die Künstler kommen
       
       Diese Entwicklung wurde vor allem durch das Quartiersmanagement in Berlin
       teilweise bewusst gefördert. Es hat etwa in Neukölln und Wedding
       leerstehende Ladenräume an junge Künstler vermittelte. Damit ändert sich
       oft die öffentliche Wahrnehmung des Bezirks: vom Problemviertel zum Szene-
       oder Künstlerquartier. Und: Dadurch wird das Quartier meist auch für
       wohlhabendere Mieter interessanter, Wohnungen lassen sich zu höheren
       Preisen vermieten.
       
       In der Modernisierungsphase beginnen sich Um- und Ausbauten der Immobilien
       für die Immobilienunternehmen zu lohnen, da ein Markt für höherpreisige
       Wohnungen entstanden ist. Dadurch werden sowohl alteingesessene Mieter
       verdrängt als auch die subkulturellen und Zwischennutzungen, die noch zu
       Beginn zur Aufwertung beigetragen haben. Letztere ziehen dann häufig in das
       nächste Viertel - Forscher sprechen davon, dass die Gentrifizierung
       "wandert".
       
       Bei der super gentrification, wie sie etwa von einigen Forschern in
       Prenzlauer Berg gesehen wird, folgt in Vierteln, die aufgrund ihrer Lage
       und besonderer Bedingungen die Möglichkeit dazu haben, eine weitere Welle
       der Verdrängung: Wenn das Potenzial zur Modernisierung von Altbauten
       ausgeschöpft ist, wird vermehrt in Luxusneubauten investiert, Mietwohnungen
       werden verstärkt zu Eigentumswohnungen umgewandelt. Statt der oberen
       Mittelschicht, die zunächst noch zu den Verdrängern gehörte, wird das
       Viertel interessant für die global orientierte Elite. Ein Markt für
       Luxuswohnungen und hochpreisige "Projekte" ist auf diese Weise entstanden.
       
       Die Politik kann steuern
       
       Der Verlauf der Gentrifizierung und in welchem Stadium sie abbricht oder
       stecken bleibt, ist nicht nur von der Lage und der Ausstattung an
       Freiräumen und Altbauten abhängig, sondern auch von politischen
       Rahmenbedingungen. Ohne die Abschaffung der Mietobergrenzen wäre die
       Gentrifizierung der Innenstadtviertel in Berlin nicht denkbar gewesen. Auch
       die Privatisierung öffentlichen Wohnraums in den vergangenen zehn Jahren
       hat vermutlich wesentlich zu Mietsteigerungen und Verdrängung beigetragen.
       
       Kritik gibt es am Begriff und Modell der Gentrifizierung von vielen
       verschiedenen Seiten: Sie reicht von dem Vorwurf des "Konservatismus" -
       Gegner der Gentrifizierung würden die normale Stadtentwicklung und die
       notwendige Modernisierung von Wohnraum ablehnen - bis hin zur verkürzten
       Kapitalismuskritik. So fragen inzwischen auch viele linke Gruppen kritisch,
       wer denn überhaupt definieren darf, was gute und schlechte Läden oder
       Kultureinrichtungen sind, oder wer denn gemeint sei, wenn von der
       Verteidigung "unseres Kiezes" die Rede ist. Dürfen in einem Viertel nur
       jene wohnen oder entscheiden, die schon lange dort leben oder gar geboren
       sind? (js)
       
       26 May 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Juliane Schumacher
       
       ## TAGS
       
   DIR Gentrifizierung
   DIR Mieten
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Gentrifizierung in Frankfurt: Pastrami-Boom neben Bordellen
       
       Das Bahnhofsviertel wird zum Szeneviertel. Einwohner kritisieren, dass
       steigende Mieten und „die Kreativen“ zu Verdrängung führen.
       
   DIR Gentrification-Protest gegen Passivhaus: Ökos im „Luxusbunker“
       
       Zwei Architekten haben in Berlin ein modernes Ökohaus gebaut. Die
       Heizkosten sind verschwindend gering. Nun haben sie die
       Gentrifizierungsgegner am Hals.
       
   DIR Eurokrise bringt Investoren nach Berlin: Aufwärts, immer weiter
       
       Das Immobiliengeschäft in Berlin boomt – international. Das Nachsehen haben
       die Einheimischen, die bei Auktionen um Wohnraum längst nicht mehr
       mithalten können.
       
   DIR Streitthema Mieten in Berlin: Kotti wird ein teures Pflaster
       
       Die Mieten im sozialen Wohnungsbau steigen rasant. Bewohner des Kottbusser
       Tors wollen bei einem Straßenfest am Samstag Lösungen suchen.
       
   DIR Was passiert in Neukölln?: "Gentrifizierer in jedem 4. Haushalt"
       
       Ein hoher MigrantInnenanteil bremst Verdrängungsprozesse. Das zeigt Olivia
       Rebers Studie über den Neuköllner Reuterkiez. Sie kritisiert, dass in dem
       Bezirk soziale Stadtpolitik stark vernachlässigt wurde