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       # taz.de -- Kolumne Besser: Die Welt ist kein Zoo
       
       > Der Ehrenmord an Arzu Özmen durch ihre fünf Geschwister wirft die Frage
       > auf: Ist jedes religiöse und kulturelle Brauchtum erhaltenswert?
       
   IMG Bild: Nicht für alle Feministinnen ein Thema, für diese schon: Protest vor dem Landgericht in Detmold.
       
       Arzu Özmen wurde von ihren Geschwistern ermordet. Im November 2011
       verschleppten sie die 18-Jährige aus der Wohnung ihres Freundes Alexander
       in Detmold. Angeblich wollten sie sie zu einem Onkel in Hamburg bringen,
       zwei Monate später wurde Arzus Leiche in einem Waldstück bei Lübeck
       gefunden. Man hatte sie mit zwei aufgesetzten Kopfschüssen hingerichtet.
       
       Für das Landgericht Detmold ein klarer Ehrenmord. In der vorigen Woche fiel
       das [1][Urteil]: Lebenslänglich für den Todesschützen Osman, zehn Jahre
       Haft für den Bruder Kirer und die Schwester Sirin, die im Auto mitfuhren,
       fünfeinhalb Jahre für die Brüder Kemal und Elvis, die nur am Anfang an der
       Verschleppung beteiligt waren.
       
       In der taz war über das Schicksal der Arzu Özmen bislang nur Folgendes zu
       lesen: Polizei bittet die Türkei um Amtshilfe (20 Zeilen); vermisstes
       Mädchen tot aufgefunden (31 Zeilen), Prozessbeginn (64 Zeilen),
       Urteilsverkündung (ca. 90 Zeilen, nur auf taz.de). Kein Porträt, kein
       Kommentar, überhaupt kein eigener Text, ausschließlich Agenturmeldungen.
       
       Nun muss man darin nicht unbedingt einen Vorsatz sehen. Die Frage, ob, wie
       und in welchem Umfang eine Zeitung ein Thema behandelt, wird häufig vom
       Zufall bestimmt. Doch nicht jedes unabsichtlich zustande gekommene Ergebnis
       ist auch ein zufälliges. Und ganz sicher gibt es im linken und
       linksliberalen Milieu, aber auch unter vielen Feministinnen und
       emanzipierten Deutschtürkinnen oder Deutscharaberinnen, eine Scheu, sich
       mit Ehrenmorden und Zwangsehen zu beschäftigen.
       
       Die Gründe dafür sind nahe liegend: Weil das Thema Leuten nützt, die früher
       „Ausländer raus“ geschrieen haben und sich heute als „Islamkritiker“
       ausgeben, aber – wie die Spackos von „Pro NRW“ – dieselben ordinären
       Rassisten geblieben sind. Weil schon der Kolonialismus, wie Frantz Fanon
       [2][notiert], gern mit den Unterdrückung von Frauen argumentiert hat, um
       seine Herrschaft zu rechtfertigen.
       
       Weil der Diskurs über patriarchale Verhältnisse unter Einwanderern oft in
       einem derart pauschalisierenden, selbstgerechten und altväterlichen Ton
       geführt wird, den sich die meisten emanzipierten Türkinnen oder Araberinnen
       verbitten. Weil man kulturalistische Sympathien für exotische Völker und
       fremde Gebräuche pflegt. Einige dieser Grund sind gut, andere nicht. Falsch
       sind sie allesamt.
       
       ## Die Sache beim Namen nennen
       
       Doch zunächst ein Wort zum Begriff Ehrenmord, den manche ablehnen, weil er
       einer schändlichen Tat etwas Achtbares zubillige. Aber so kaputt, archaisch
       und bekloppt ein Ehrenkodex ist, der Menschen dazu bringt, ihre Töchter
       oder Schwestern umzubringen, ist der Verweis auf das Motiv – die Ehre –
       notwendig. Diesen Hinweis zu tilgen bedeutet, das Besondere der Tat zu
       verwischen.
       
       Arzu fiel also einem Ehrenmord zum Opfer. Und der Fall ist aufschlussreich
       für die gesamte Debatte.
       
       Denn bei den Özmens, die vor über zwanzig Jahren aus der Türkei nach
       Deutschland gekommen waren, handelte es sich, wie Annette Ramelsberger in
       einer exzellenten, online leider nicht verfügbaren Reportage in der
       Süddeutschen Zeitung dargestellt hat, um eine bestens „integrierte“
       Familie.
       
       Abitur gemacht hatte nicht die Ausreißerin Arzu, sondern die ältere
       Schwester Sirin. Sirin arbeitete in der Detmolder Stadtverwaltung und
       nutzte ihre Kontakte und ihre Zugänge zu städtischen Datenbanken dazu, ihre
       untergetauchte Schwester ausfindig zu machen. Die Brüder hatten
       Handwerksberufe gelernt und waren in der Freiwilligen Feuerwehr aktiv. Die
       Familie hatte es zu bescheidenem Wohlstand gebracht.
       
       Der Fall widerlegt die verbreitete Annahme, Bildung sei der „Schlüssel zur
       Integration“, er widerspricht sogar der Annahme, dass es um „Integration“
       geht – mehr „Integration“ als Freiwillige Feuerwehr in Detmold geht nicht.
       Der Fall widerspricht dem vulgärmarxistischen Lehrsatz, dass allein das
       gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimme. Er überführt die
       reflexhaft vorgetragene – und zynische – Behauptung, dass Ehrenmorde und
       Zwangsehen nichts mit Religionen zu tun hätten, sondern Ausdruck
       patriarchaler Verhältnisse seien, die im Übrigen auch in anderen
       Gesellschaften herrschten.
       
       Sicher gibt es auch andernorts patriarchale Verhältnisse. Und sicher
       dürften sich die Tatmotive bei einem Mord an der eigenen Ehefrau meist
       ähneln, selbst wenn hierzulande eine solche Tat nur dann als Ehrenmord
       gilt, wenn der Täter Mustafa oder Mohammed heißt, aber unter
       „Familiendrama“ firmiert, sofern der Mörder auf den Namen Willi oder Stefan
       hört.
       
       ## Strenge Heiratsregeln
       
       Aber dass Geschwister oder Väter einen Mord begehen, weil sie einen
       archaischen Ehrenkodex verletzt sehen, ist im 21. Jahrhundert nur in
       bestimmten Kulturkreisen verbreitet – und in anderen nicht. 9,5 Prozent
       aller Mädchen, die sich im Jahr 2008 in Deutschland wegen einer
       bevorstehenden Zwangsverheiratung an Beratungseinrichtungen wandten,
       [3][stammten] aus jesidischen Familien (und 83 aus muslimischen), obwohl
       der Anteil von Jesiden in Deutschland im Promillebereich liegt.
       
       Gleichwohl widerspricht der Fall Arzu der beliebten Übung, Ehrenmorde
       direkt aus dem Koran herzuleiten. Denn die Özmens sind deutsch-kurdische
       Jesiden; eine uralte Religionsgemeinschaft, die sexuelle Beziehungen zu
       Angehörigen anderer Religionen als Abfall vom Glauben wertet. Ehen sind nur
       unter Jesiden erlaubt – in der strengen Auslegung sogar nur jeweils
       innerhalb der drei jesidischen Kasten.
       
       An dieser Doktrin hält auch der „Zentralrat der Jesiden in Deutschland“
       fest, der zwar den Mord an Arzu [4][verurteilt] hat, um sogleich jeden
       Zusammenhang zum jesidischen Brauchtum zurückzuweisen: „Es unterscheidet
       uns Yeziden nicht von anderen, dass es auch in unseren Reihen Menschen
       gibt, die verabscheuungswürdige Taten begehen.“
       
       ## Patriarchat und Penicillin
       
       Die „Gesellschaft für bedrohte Völker“ verzeichnet die Jesiden auf ihrer
       [5][Liste] der „bedrohten Gemeinschaften“. Die entscheidende Frage aber
       stellt dieser Verein, der – ganz in der Tradition der deutschen Romantik
       und der europäischen Bildungsreisenden des 19. Jahrhunderts stehend – die
       Welt als Zoo eingerichtet wissen will, in der westliche Reisende pittoreske
       Eingeborene im artgerechten Gehege betrachten können, die entscheidende
       Frage also stellen diese und andere Kulturrelativisten nicht. Diese lautet:
       Ist es gut oder nicht, wenn der jesidische Glaube das Zeitliche segnet?
       
       Um nicht missverstanden zu werden: In der letzten Phase des Osmanischen
       Reich waren die Jesiden brutaler Unterdrückung und grausamer Verfolgung
       ausgesetzt. Dem Völkermord an den Armeniern fielen auch Zehntausende
       Jesiden zum Opfer, heute noch werden sie in im Irak, der Türkei, Syrien,
       Georgien und Armenien benachteiligt, zuweilen staatlich oder
       gesellschaftlich [6][verfolgt]. Diese Verfolgung ist durch nichts zu
       rechtfertigen. Aber sie rechtfertigt auch keinen Ehrenmord.
       
       Jedes einzelne Menschenleben ist schützenswert. Aber längst nicht jedes
       Brauchtum. Wer jedoch das Verschwinden einer Kultur beklagt, aber nichts
       von Unterdrückungsverhältnissen innerhalb dieser Kultur wissen will, wer
       sich also gegen den gesellschaftlichen Fortschritt stemmt, könnte sich
       ebenso gut darüber beklagen, dass durch den Einsatz von Penicillin die
       Selbstregulierung der Natur mittels Masern und Scharlach zerstört worden
       sei.
       
       *** 
       
       Besser: Besser, religiöses oder kulturelles Brauchtum, das sich zu
       modernisieren nicht imstande oder willens ist, verschwindet. Nicht durch
       Gewalt und Zwang, aber durch Arzus dieser Welt. Etwas besseres als derlei
       überkommene Traditionen finden sie allemal. Nur schützen muss man sie.
       
       21 May 2012
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Prozess-zum-Mord-an-Arzu-/!92524/
   DIR [2] http://jungle-world.com/artikel/2001/44/24977.html
   DIR [3] http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen/Zwangsverheiratung-in-Deutschland-Anzahl-und-Analyse-von-Beratungsf_C3_A4llen,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf
   DIR [4] http://www.yeziden.de/44.0.html?&tx_ttnews%5Btt_news%5D=1322&tx_ttnews%5BbackPid%5D=22&cHash=6e54339284c4d8f3dfcfdc58c51a65ae
   DIR [5] http://www.gfbv.de/volk.php?id=30
   DIR [6] /Terror-im-Irak/!3253/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Deniz Yücel
       
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