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       # taz.de -- Kolumne Cannes Cannes: Eine Kordel trennt die Sphären
       
       > In Ulrich Seidels Film „Paradies: Liebe“ geht es um einen kenianischen
       > Beach Boy. Er erfüllt die Bedürfnisse europäischer Frauen und lässt sich
       > dafür bezahlen.
       
   IMG Bild: Routiniertes Schlagerpublikum in Ulrich Seidls „Rimini“
       
       CANNES taz | Peter Kuzungu hatte Schwierigkeiten, nach Cannes zu reisen.
       Erst am Abend vor der Premiere von „Paradies: Liebe“ ist der junge Kenianer
       angekommen. Es gab Probleme mit dem Pass und mit dem Visum, sagt Ulrich
       Seidl, der Regisseur des Films, bei der Pressekonferenz.
       
       Deswegen hat Kuzungu den Film noch gar nicht gesehen, und deswegen hat es
       wenig Sinn, ihn zu fragen, wie er sich darin dargestellt sieht. Schade,
       denn von Kuzungu, im echten Leben wie im Film ein Beach Boy, also einer,
       der die romantischen und sexuellen Bedürfnisse europäischer Frauen erfüllt
       und sich dafür bezahlen lässt, hätte man gern erfahren, ob er mit Seidls
       Blick auf sein Metier etwas anfangen kann.
       
       Zugleich vergegenwärtigt dieses in letzter Sekunde ausgestellte Visum die
       Asymmetrie, um die es auch im Film unentwegt geht: Ein junger Franzose
       bekäme ohne Probleme ein Touristenvisum für Kenia, umgekehrt gilt das
       nicht.
       
       „Paradies: Liebe“ ist einer der beiden österreichischen Filme im Wettbewerb
       und der erste Teil einer ehrgeizigen Trilogie Seidls. Im Mittelpunkt steht
       Teresa (Margarethe Tiesel), eine vielleicht 55 Jahre alte Frau mit
       pubertierender Tochter. Sie arbeitet als Pflegerin für Behinderte. In der
       spektakulären ersten Sequenz des Films steht sie vor der exotischen
       Dekoration eines Autoscooters, auf der Piste vergnügen sich ihre
       Schützlinge, Menschen mit Downsyndrom; die Kamera schaut von der Haube der
       Autoscooter in selige Gesichter.
       
       ## Hotel vs. Beach Boys
       
       Wenige Szenen später reist Teresa nach Kenia, an die Stelle der exotischen
       Kulisse im Autoscooter tritt also ein echter Palmenstrand, säuberlich
       aufgeteilt in einen Bereich, der zum Hotel gehört, und einen, der den Beach
       Boys gehört. Eine Kordel trennt die beiden Sphären; Seidl bringt diese
       Aufteilung mehrmals in sorgfältig komponierten Totalen zum Vorschein.
       
       Teresa fühlt sich hässlich und dürstet nach Zuwendung, zugleich ist sie ein
       Paradebeispiel europäischer Überheblichkeit. Wenn die kenianischen Männer
       nicht tun, was sie möchte, wird sie herrisch. Margarethe Tiesel, die
       Hauptdarstellerin, sagt es so: „Die Ausgebeutete beutet selber aus.“
       
       „Paradies: Liebe“ lotet diese tiefe Ambivalenz aus Bedürftigkeit und
       Arroganz aus. Der Film wirft seiner Hauptfigur nicht vor, was sie tut, er
       entwickelt sogar ein Gespür für die Komik, die in dieser verqueren,
       neokolonialen Austauschbeziehung eben auch steckt. Aber zugleich erspart er
       seinem Publikum nichts – gegen Ende etwa gibt es eine lange, deprimierende
       Sequenz, in der sich Teresa und drei Freundinnen an einem jungen Mann
       schadlos halten.
       
       Schon in seinen früheren Filmen – in „Hundstage“ (2001) oder in „Import
       Export“ (2007) etwa – hat Ulrich Seidl dorthin geschaut, wovon andere den
       Blick abwenden. In erbärmlichen Verhältnissen findet er Würde, seine
       Zuneigung gilt Figuren, die nicht recht begreifen, was sie tun.
       
       „Paradies: Liebe“ löst trotzdem leichtes Unbehagen aus, vielleicht weil die
       erbärmlichen Verhältnisse hier ein klein wenig zu konstruiert erscheinen
       und weil die Figuren, auf die mit Zärtlichkeit zu blicken Wunsch des Film
       ist, ein klein wenig zu klar konturiert sind in ihrer Not.
       
       18 May 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Cristina Nord
   DIR Cristina Nord
       
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   DIR Österreich
       
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