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       # taz.de -- Debatte Rassismus: Die neuen Kreuzritter
       
       > Europa stilisiert den Massenmörder Anders Breivik munter zum Promi des
       > Bösen. So lässt sich der breite Hass auf Muslime ignorieren.
       
       Er hat gejubelt, als seine Kugeln trafen, sagt vor zwei Tagen die
       24-jährige Zeugin und Überlebende Tonje Brenna aus. Der Prozess gegen
       Anders Breivik tritt in eine neue Phase, denn nun sollen die Überlebenden
       in seinem Beisein ihre Sicht der Tat schildern.
       
       Und ist die Freude beim Töten nicht ein weiterer Beweis für den Irrsinn des
       selbst ernannten Kreuzritters? Wahrscheinlich schon. Trotzdem wäre es der
       größte Fehler, den Europa jetzt machen kann, wenn es Breiviks Tiraden gegen
       den Islam und den Multikulturalismus einfach als das Delirium eines Irren
       abtut.
       
       Sein tausendseitiges Manifest, genauso wie seine Überzeugungen insgesamt
       sind keineswegs einfach das „bizarre“ Produkt eines „kranken
       Gedankenuniversums“, so wie es das erste psychologische Gutachten
       konstatierte.
       
       ## Kein norwegischer Sonderfall
       
       Im Gegenteil, Breiviks Gedankenuniversum enthält sämtliche Strukturelemente
       einer inzwischen mächtigen Islamophobie, die ganz Europa erfasst hat. Es
       ist höchste Zeit, Breiviks monströse Verbrechen als schrillen Weckruf zu
       begreifen – nicht nur für Europäer übrigens –, es ist höchste Zeit, das
       sehr reale Gewaltpotenzial zu erkennen, das dieser antimuslimischen
       Bewegung innewohnt.
       
       Breivik ist kein norwegischer Sonderfall, sondern Symptom einer sich
       ausbreitenden Kultur der politisch motivierten Gewalt. Muslime werden
       beleidigt, angegriffen und getötet, ihre Moscheen und Friedhöfe werden mit
       Graffiti beschmiert beziehungsweise verwüstet, manchmal gehen auch Bomben
       hoch. Bislang reagieren die Polizei und andere Sicherheitsbehörden allzu
       lax auf die Bedrohung durch die (christliche) Rechtsextremen, insbesondere
       auf die radikalsten, islambesessenen Strömungen.
       
       Die Quelle der Diskriminierung indessen, die hasserfüllte Rede
       (Hatespeech), und die wachsende Gewalt gegen europäische Muslime und
       Gemeinden findet aber nicht irgendwo weit weg statt, sondern direkt bei uns
       um die Ecke: Islamophobie hat eine akzeptierte Präsenz im Mainstream
       gewonnen, von Skandinavien über Osteuropa bis hin zum Mittelmeer.
       
       ## Demokraten kapitulieren vor Islamphobie
       
       Parteien wie die Lega Nord, Front National, die Rechten in Lettland und
       Slowenien und auch die Schweizer SVP oder das österreichische BZÖ, sie alle
       schlagen zwar einen milderen Ton an als Breivik, und sie rufen auch nicht
       zum Mord auf, in Sachen Hass aber auf die Muslime teilen sie wie Thilo
       Sarrazin die Ansicht, dass Muslime Fremdkörper in der Europa seien und der
       europäischen Kultur schadeten.
       
       Selbst waschechte Demokraten haben vor der Islamophobie kapituliert,
       unfähig, das komplexe Feld des Islam und der europäischen Muslime
       konstruktiv zu bearbeiten. Das Verbot der Burka in Frankreich und Belgien
       fand jeweils breite Unterstützung. Gesetze wie diese stigmatisieren Muslime
       weiter und spielen direkt in die Hände der neuen europäischen
       Rechtsradikalen.
       
       ## Es fehlt jede Tabuisierung
       
       Der Rassismus gegen Muslime setzt auf eine kulturelle Hierarchie. Menschen
       werden nicht aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts oder einer
       Behinderung diskriminiert, sondern ihre Kulturzugehörigkeit ist das
       unüberwindliche Handicap. Damit wird unterstellt, dass Kulturen starr sind
       und „rein“: Die westliche Zivilisation steht ganz oben, der
       rückwärtsgerichtete Islam ist ihr Erzfeind.
       
       Muslime sind nicht biologisch unterlegen, so wird argumentiert, aber
       kulturell seien sie eben inkompatibel. Die Behauptung von einem
       Zusammenprall der Kulturen funktioniert genauso, wie Rassismus
       funktioniert, und nutzt allen, die sie seit Langem darum bemüht sind, die
       Immigration einzudämmen oder ganz zu verbieten, die Türkei aus Europa
       fernzuhalten oder ein weißes christliches Europa zu sichern. Anders aber
       als beim offenen Rassismus gibt es keine politisch korrekte Tabuisierung
       der Islamophobie – noch.
       
       Breiviks Statements im Netz – genauso wie die der zig anderen
       antiislamischen Intellektuellen, Autoren und Blogger in Europa und
       Nordamerika, auf die er sich bezieht – sind durchsetzt mit dem Regelwerk
       des antimuslimischen Rassismus.
       
       ## „Errungenschaften des Westens“
       
       Im Kern setzt diese Weltsicht die letzten 2.000 Jahre als Kampf der
       westlichen Zivilisation gegen den Vormarsch eines gewalttätigen,
       monolithischen Islam, der nichts anderes im Sinn habe, als das klassische
       christliche Europa zu zerstören. Im Namen der Aufklärung sollen die
       Errungenschaften „des Westens“ gegen die Implementierung der Scharia
       verteidigt werden.
       
       Die neuen Kreuzritter legitimieren sich, indem sie sich selbst als die
       Protektoren von Frauen-, Schwulen- und Lesbenrechten gerieren – gegen den
       totalitären Islam. Der Gegendschihad macht keinen Unterschied zwischen
       europäischen Muslimen, Migranten-Communitys und al-Qaida. Und genau mit
       dieser Unschärfe ist er erfolgreich. In Frankreich hat die rechtsextreme
       Partei von Marine Le Pen jüngst bei der ersten Präsidentenwahl 18 Prozent
       der Stimmen bekommen.
       
       ## Der Promi des Bösen
       
       Natürlich, ja. Direkt nach Breiviks Anschlag haben die muslimfeindlichen
       Stimmen vorübergehend geschwiegen – und es gab Hoffnung, dass irgendwie
       doch etwas von dem Zusammenhang zwischen Wörtern, Rede und Hass gelernt
       wurde. Aber diese Hoffnung hielt nicht lange an.
       
       Nachdem die breite Öffentlichkeit Breivik als Psychopath entpolitisiert und
       vehement als Stichwortgeber für eine breite gesellschaftliche Strömung
       verleugnet hat, gingen die Muslimenhasser munter in die nächste Runde.
       Norwegische Zeitungen haben regelmäßig ihre Kommentarfunktion bei Artikeln
       rund um Islam und Einwanderung abgeschaltet, so rassistisch waren die
       Anmerkungen vieler Leser.
       
       Und die Medien? Sie konzentrieren sich auf die Person Breivik,
       personalisieren, was das Zeug hält, das verkauft sich gut. „Wir sehen so
       intensiv in die Augen des Terroristen, dass wir blind werden“, schrieb
       Aslak Sira Myhre, die für eine NGO zur Verteidigung der Meinungsfreiheit
       namens Fritt Ord arbeitet.
       
       Anders Breivik ist ein Promi geworden, eine neue Ikone für das Böse. Damit
       verschließen wir unsere Augen vor der Tatsache, dass Breiviks Weltsicht von
       vielen in ganz Europa geteilt wird.“
       
       Übersetzung aus dem Amerikanischen von Ines Kappert
       
       11 May 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Paul Hockenos
       
       ## TAGS
       
   DIR Integration
       
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