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       # taz.de -- Prozess gegen somalische Piraten: Überfall in Flipflops
       
       > In Hamburg stehen 10 Somalier vor Gericht, die im April 2010 ein
       > deutsches Containerschiff gekapert haben. Kritiker sprechen von
       > „Kolonialjustiz“.
       
   IMG Bild: Anwälte finden es nicht legitim, Somaliern in Deutschland den Prozess zu machen. Somalische Piraten bei ihrer Festnahme im Jahr 2009.
       
       HAMBURG taz | Khalif Didier erhebt seine Stimme nicht. Selbst als der
       Richter ihn fragt, ob es wahr sei, dass der Spitzname seines Vaters „die
       laufende Lüge“ war, bleibt er ruhig.
       
       Es ist der 83. Verhandlungstag im Piratenprozess vor dem Hamburger
       Landgericht, und Didier, 29 Jahre, anthrazitfarbenes Sakko, auf dem Kopf
       riesige Kopfhörer für die Übersetzung, sitzt in der dritten Reihe der
       Angeklagten und kämpft um seine Glaubwürdigkeit. „So nennt niemand meinen
       Vater“, sagt er. Und auch er selbst sage die Wahrheit.
       
       Darum geht es an diesem Tag, denn Didier hat sich selbst zu einer Art
       Kronzeugen im Verfahren gegen seine Mitangeklagten gemacht. Zehn Männer,
       die am 5. April 2010 etwa 500 Seemeilen vor der Küste Somalias das
       Containerschiff „Taipan“ kaperten. Barfuß oder mit Flip-Flops, in kurzen
       Hosen – das zeigen Videoaufnahmen – mit Enterhaken und Panzerfäusten
       überfielen die ehemaligen Fischer das Schiff auf seinem Weg von Dschibuti
       nach Mombasa. Die 13 Seeleute, darunter zwei Deutsche, blieben unverletzt.
       „Ich hatte keine Furcht“, sagte der Kapitän der „Taipan“, Dierk Eggers,
       später vor Gericht, als sich die Somalier bei ihm entschuldigen.
       
       Schon nach vier Stunden überwältigt ein niederländisches Kommando der
       EU-Antipirateriemission Atalanta die Piraten. Die Niederlande liefern sie
       nach Hamburg, dem Sitz der „Taipan“-Reederei Komrowski, aus. Im Oktober
       2010 klagt der Oberstaatsanwalt Wilhelm Möllers sie wegen Angriffs auf den
       Seeverkehr an, nur 33 Seiten umfasst die Anklageschrift. „Überschaubar und
       gut eingrenzbar“ sei der Sachverhalt, sagt Möllers damals.
       
       Fünf Wochen später beginnt der erste Prozess wegen Piraterie in Deutschland
       seit Jahrhunderten. Zwanzig Verteidiger werden bestellt. Zu Beginn bittet
       einer der Somalis das Gericht darum, „nicht gefoltert“ und „zügig
       hingerichtet“ zu werden.
       
       ## Verworrene Fakten
       
       Heute ist von der Einschätzung Möllers nichts geblieben. Die Faktenlage ist
       verworren. Die Angeklagten sollen zwischen 19 und 50 Jahre alt sein, das
       Gericht hat ihre Altersangaben teils mit umstrittenen Gutachten von
       Gerichtsmedizinern nach oben korrigiert. Lange schweigen sie, 2011 legen
       einige der Angeklagten dann Teilgeständnisse ab.
       
       Einer sagte, er habe Lösegeld für seinen entführten Sohn beschaffen müssen.
       Ein anderer erklärte, der Fischfang habe nicht mehr zum Leben gereicht, nur
       deshalb habe er sich beteiligt. Ein dritter sagte, mit Waffengewalt zum
       Überfall gezwungen worden zu sein. Fünf Männer hätten ihn niedergeknüppelt
       und mit Erschießung gedroht. Weitere Angeklagte äußern sich ähnlich. Die
       Hintergründe des Überfalls aber bleiben unklar.
       
       Anwälte und Prozessbeobachter bezweifeln, dass es legitim ist, die Männer
       aus einem Land, in dem es kaum Gesetze und kaum einen Staat, dafür aber
       unfassbares Elend gibt, in Deutschland abzuurteilen. Von „Kolonialjustiz“
       spricht eine Hamburger Unterstützergruppe der Somalier. Schließlich haben
       ausländische Fischflotten die Gesetzlosigkeit in der Region ausgenutzt, um
       den Golf von Aden rücksichtslos auszubeuten. Das „Weltrechtsprinzip“ will
       hingegen das Gericht anwenden: „Angriffe auf den Seeverkehr“ könnten von
       jedem Land der Welt abgeurteilt werden. Und die meisten der vor Somalia
       entführten Schiffe gehören Reedereien aus Deutschland.
       
       Als die Beweisaufnahme im Januar am Ende schien, fordert die
       Staatsanwaltschaft wegen der „hoch professionellen, quasi militärischen“
       Vorgehensweise vier bis elfeinhalb Jahre Haft. „Die blenden komplett aus,
       dass die Taten aus absolutem Elend heraus begangen wurden“, sagte der
       Anwalt Manfred Getzmann. Sein Kollege Philipp Napp bemängelte, dass das
       Gericht sich weigert, afrikanische Sachverständige zuzulassen, die ein Bild
       von den „apokalyptischen Zuständen“ in Somalia vermitteln könnten.
       
       Dafür machte Khalif Didier am 29. Februar für alle Beteiligten überraschend
       eine Aussage. Es ist der Wendepunkt des Prozesses. Vierzig Minuten lang
       erklärt er, warum die anderen Angeklagten dem Gericht „nur Märchen erzählt“
       hätten: Niemand sei zu dem Überfall gezwungen worden, sie alle hätten dies
       „vollkommen frei“ getan. Er selbst allerdings nur „als Dolmetscher“.
       
       ## „Ziemlich frech“
       
       „Seitdem versucht jeder nur noch, seine Haut zu retten“, sagt Mukthaar
       Sheekh Cali. Er ist Übersetzer im Prozess, 1995 floh er selbst aus Somalia.
       Dass viele Deutsche sagen, den Piraten gehe es in einem deutschen Knast
       doch besser als zu Hause, findet er „ziemlich frech“. Freiheit sei „ein
       hohes Gut“, die Angeklagten seien in Haft psychisch krank geworden. „Sie
       haben große Sehnsucht nach ihren Familien.“ Am Anfang seien die Angeklagten
       fast ein Jahr getrennt untergebracht gewesen. „Mittlerweile haben sie
       angefangen, das System zu verstehen und ihre Rechte zu verlangen.“ Unter
       anderem wollten sie im Gefängnis arbeiten, um die Telefonate zu Verwandten
       in Somalia zu bezahlen.
       
       Im April entlässt das Gericht die drei heranwachsenden Angeklagten aus der
       U-Haft. Sie leben jetzt in einer Jugendwohnung. Die übrigen gehen gegen
       Didier in die Offensive: Er sei der Anführer gewesen, erklären sie. Seine
       Familie habe den Überfall organisiert und die Waffen besorgt. All dies hält
       der Richter ihm heute vor.
       
       „Sie haben die anderen Angeklagten schwer belastet. Und es gibt viele
       Rätsel in ihren Aussagen.“ Der andere Name etwa, unter dem auch die
       Holländer Didier führten, die Widersprüche bei der Stammeszugehörigkeit.
       Die Hinweise auf Aufenthalte in Sambia, obwohl er behauptet, Somalia nie
       verlassen zu haben. Die Gerüchte über eine Festnahme bei der Attacke auf
       ein griechisches Schiff. Didier weist alles zurück. Die Lügner, das seien
       die anderen, sagt er.
       
       Nach zwei Stunden bricht der Richter die Vernehmung ab. Ein
       Fingerabdruckvergleich soll jetzt klären, ob Didier tatsächlich schon zuvor
       ein anderes Schiff überfallen hat. Bis zum Sommer sind weitere
       Verhandlungstermine angesetzt.
       
       10 May 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Jakob
       
       ## TAGS
       
   DIR Somalia
   DIR Piraten
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