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       # taz.de -- Debatte Urheberrecht: Die Angst vor dem kreativen Nutzer
       
       > Das Netz animiert die bisher teilnahmslosen Konsumenten zur Interaktion
       > mit Kultur. Eine Antwort auf die 100 Unterzeichner der Erklärung „Wir
       > sind die Urheber“.
       
   IMG Bild: Regt zum Mitmachen und Verändern an: Kunst im digitalen Zeitalter.
       
       Nein, Sie sind nicht die Urheber, allenfalls ein Promille aller
       schöpferisch Tätigen in Deutschland: Die 100 Unterzeichner [1][der
       Erklärung „Wir sind die Urheber“]. Denn bereits bei der GEMA werden 60.000
       Urheber vertreten, ganz zu schweigen von der Vielzahl der nicht
       registrierten und oft im Prekariat lebenden Schöpfern und jenen, die
       bereits den Gang allen Irdischen hinter sich brachten und deren Rechte
       weiterhin bis 70 Jahre nach ihrem Tod ausgewertet werden.
       
       Die fehlerhafte, zumindest fragwürdige Analogie vom physischem Eigentum und
       dem metaphorischen geistigen Eigentum, aber auch die höchst verführerische
       und dennoch falsche Gleichstellung von Kopiervorgang und Diebstahl wurde
       bereits hinreichend beleuchtet – doch die 100 Unterzeichner haben sie
       sicher ebenso wenig gelesen wie das Parteiprogramm der Piratenpartei,
       welches nicht danach trachtet das Urheberrecht abzuschaffen, sondern
       sinnvoll zu reformieren.
       
       So aber bleibt von Ihrer Kampagne nur der schale Beigeschmack einer
       polemischen Kampagne, für die sich die Zeit ebensowenig zu Schade war wie
       das Handelsblatt vor einigen Wochen mit ihren hundert Köpfen.
       
       Man beißt eben nicht die Hand, die füttert, und lässt sich von
       kulturkonservativen Argumenten einseitig gegen eine vermeintliche
       Netzgemeinde kriminell-asozialer Schmarotzer in Stellung bringen. Auch sind
       die kritischen Stimmen erfolgreichen Urheber selten daran interessiert, das
       eigene Erfolgsmodell zu reformieren. Ein Schelm, wer hier Übles denkt, denn
       eigentlich bedeutet die Demokratisierung der Produktionsmittel zuerst
       einmal eine umfassende Öffnung bisher schwer zugänglicher und
       wirtschaftlich kontrollierter Kanäle zwischen Urhebern und den potenziellen
       Interessenten seiner Kreationen, den Nutzern.
       
       Die ewig junge Kulturtechnik des Kopierens, der Selektion und der
       Transformation animiert die bisher teilnahmslose Masse der Konsumenten zur
       Interaktion und sei es vorerst nur der Videomashup auf Youtube, erste
       musikalische Gehversuche mit gesampelten Loops aus den Charts oder
       Fotomontagen auf Facebook. Die Kulturindustrie hingegen fürchtet
       langfristig nichts mehr als die Entfesselung und Aktivierung des
       lethargischen und passiven Konsumenten, dessen Phlegma für einen konstanten
       Massenmarkt von entscheidender Bedeutung ist.
       
       Denn Kultur ist trotz aller gegenteiligen Beteuerungen leider größtenteils
       ein rein ökonomisches Produkt, dessen ästhetische Gesichtspunkte weit
       hinter den Warenwert treten und die in ihrer Summe der Rendite von globalen
       Auswertungsverträgen verpflichtet sind. Wer dagegen selbst mit
       schöpferischen Prozessen vertraut ist, lernt schnell Gleiches und
       Vielfältiges kritisch zu differenzieren und eigene Qualitätskriterien der
       Selektion zu entwickeln.
       
       ## Neue Koordinaten für die Kultur
       
       Das klassische Urheberrecht geht aber nicht von einer bidirektionalen
       Nutzung und unmittelbaren Interaktion mit urheberrechtlich geschützten
       Werken aus, sondern behandelt alleine die Rechtsbeziehung zwischen Urheber
       und Verwerter.
       
       Doch gerade im Zuge der neuen Nutzungsarten entstehen nicht nur neue Werke
       und ein Koordinatensystem der Verschränkungen und ihrer Vererbung, sondern
       ein fließender und kommunikativer Austausch und damit die Voraussetzung für
       die Evolution kultureller Potenziale. Dieser Widerspruch ist nur mittels
       einer grundlegenden Anpassung des restriktiven Urheberrechtes der
       Vergangenheit aufzulösen ist und nichts mit der so oft kolportierten
       Enteignung von Urhebern zu tun hat.
       
       So kritisierte der Kulturphilosoph Theodor Adorno bereits in den 1960ern
       die kulturindustriellen Auswirkungen der Abkehr von einem liberalen und
       autonomen Kulturbild. Statt eines kritischen Impetus bezüglich
       gesellschaftlicher Veränderungen, verknüpfte die Industrie ihre eigenen
       Wünsche mit der Produktion von Kultur bis zur Ununterscheidbarkeit. So
       fördert die Unterhaltungsindustrie hauptsächlich jene Werke, die dem
       Bekannten ähnlich genug sind, denn nur so ist eine breite
       Konsumentenantwort sicher, während die bereits erprobten Muster der
       Vermarktung ein geringes Risiko für Investitionen darstellen.
       
       Diese Wechselwirkung von breitem Konsumenteninteresse und dosierter
       künstlerischer Innovation ist bezeichnend für die chartorientierte
       Unterhaltungsindustrie, die jahrzehntelang Produktions- und Vertriebswege
       kontrollierte und gleichzeitig kreative und gesellschaftsfördernde
       Innovationen hemmte. Darüber hinaus fördert sie die Abhängigkeit von
       Urhebern, um sie nach erfüllender Auswertung oft genug in Prekariat fallen
       zu lassen.
       
       Wer den Begriff der Allmende in der Urheberrechtsdiskussion fallen lässt,
       wird schnell des modernen Marxismus bezichtigt, denn der staatenlose
       Philosoph definierte den Tauschwert von Waren als ein zentrales Paradigma,
       welches in der digitalen Welt des verlustfreien Kopierens eine besondere
       Bedeutung erfährt. Dem gegenüber steht jedoch die Willkür restriktiver
       Einhegung, denn Eigentumsbegriffe waren immer flexibel und nie so strikt
       definiert wie heute.
       
       Diese ständige, durch neue globale Handelsabkommen flankierte
       nutzungsrechtliche Verengung betrifft bei Weitem nicht nur
       Immaterialgüterrechte, wie kulturelle und wissenschaftliche Schöpfungen,
       sondern ist die Spitze des Eisberges der Konflikte um elementare Ressourcen
       und territoriale Ansprüche. Die Verlockungen eines digitalen Eldorado für
       die Kulturindustrien sind einfach zu Erfolgs versprechend um die Warnungen
       vor einer für die Demokratie kaum umkehrbaren Totalüberwachung
       wahrzunehmen.
       
       ## Alte Verfahren, neue Modelle
       
       Es ist unzweifelhaft, dass Schöpfer geistiger Güter nicht nur angemessen
       honoriert werden müssen, sondern auch eine bessere Absicherung für ihre
       häufig unwägbaren Lebensumstände benötigen.
       
       Die Einzelverrechnung von Werknutzungen ist bereits in der Vergangenheit
       als nicht zu handhabendes Verfahren gescheitert, ihre Wirkungslosigkeit ist
       im Internet offensichtlich. „Trittbrettfahrereffekte“ betreffen nicht nur
       Passanten von Konzerten, unlizensierte Aufführungen, legale Privatkopien
       und sonstige Schranken des Urheberrechtes, sondern sind Teil der Idee eines
       freien Netzes der Teilhabe aller. Eine Teilhabe die bei den Segnungen von
       freiem HTML, Email, Protokollen und Infrastruktur für Individuen und
       Konzernen bis zur Verfügung von Wissensdatenbanken, Kulturgütern und Ideen
       reicht.
       
       Pauschalabgaben haben sich in der Vergangenheit zur Honorierung der
       Werkaufführung bewährt, während moderne Finanzierungsmodelle wie
       Crowdinvesting, Crowdfunding und Micropayments zur Anschubfinanzierung und
       Schaffung neuer Werke bereits in den Vereinigten Staaten ihren Siegeszug
       angetreten sind.
       
       So gilt es diesen neuen Geschäftsmodellen auch in Deutschland einen
       größeren Vertrauensvorschuss in dem Masse zu schenken, wie wir es auch dem
       Netz und seinen neuen Möglichkeiten gegenüber tun. Ernsthafte Rezeption,
       Fankultur und Anhängertum führen über Vertrauen statt Sanktionierung zu
       angemessener, freiwilliger und vernunftbasierter Honorierung. Erst ein
       breiter gesellschaftlicher Diskurs kann die Debatte entzerren und vom
       Urheberrechts-Alibi zum eigentlichen Thema lenken: Was ist der Gesellschaft
       Kunst und Kultur wert?
       
       Globale Probleme der Überproduktion, externalisierter Kosten, Umweltschäden
       und irreparabler sozialer Imbalance haben eine gemeinsame Wurzel und eine
       ähnliche Ausgangslage. Die Allmende ist kein protoromantischer
       postkommunistischer Garten Eden. Sie muss als Gegengewicht zur ausnahmslos
       kapitalistischen Ausrichtung dem allgemeinen Interesse einen wegweisenden
       Akzent verschaffen.
       
       Studien wie „Sharing - Culture and Economy in the Internet Age“ von Philip
       Aigrain errechnen mit Hilfe empirischer Daten und mathematischer Modelle
       des Filesharings einen moderaten Pauschalbetrag zur Honorierung der
       Leistung von Urhebern. Bevor jedoch die Diskussion um eine Pauschalabgabe
       für Filesharing beginnen kann, müssen grundlegende Weichenstellungen
       erfolgen. Neben der öffentlichen Debatte um Höhe und Funktionsweise kommt
       gerade der Erhebung und Verteilung von Pauschalen besondere Bedeutung zu.
       
       Der Diskurs um die freie Weitergabe nichtkommerziellen Ausmaßes, die freie
       lizenzfreie Vermittlung von Wissen, die Befreiung von Künstlern und
       verwaisten Werken aus Schutzfristen und anderen Begrenzungen mag
       Modellcharakter für andere Bereiche der gesellschaftlichen Debatte haben
       und sie beginnt – wie sollte es anders sein – in der Kunst, der Kultur und
       bei ihren Protagonisten und beginnt mit einem Eingeständnis: Das Netz macht
       alle zu Kreativen. Wir müssen dringend reden - um der Kunst willen!
       
       10 May 2012
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.wir-sind-die-urheber.de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bruno Kramm
       
       ## TAGS
       
   DIR Musik
       
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