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       # taz.de -- Buch „Aufruhr der Ausgebildeten“: Aufstände in Zeiten der Postideologie
       
       > Mit den Aufständen von Kairo bis New York beschreibt Wolfgang Kraushaar
       > die erste globale Protestbewegung seit 1968. Ist die Revolte schon wieder
       > vorbei?
       
   IMG Bild: Entschieden und diffus zugleich: Eine Occupy-Wall-Street-Demonstrantin marschiert am 21. März 2012 in New York.
       
       2011 geschah in Kairo und Madrid, in Santiago de Chile und Tunis, New York
       und Frankfurt etwas Überraschendes. In den arabischen Ländern fegte eine
       von jungen Akademikern initiierte Protestbewegung die verwitterten
       autoritären Regime hinweg. In den westlichen Metropolen formierten sich
       kurz darauf basisdemokratische Bewegungen, die gegen die Kluft zwischen
       Reich und Arm mobilisierten und symbolisch sogar die Wall Street, eine
       Herzkammer des Finanzkapitalismus, attackierten.
       
       Auffällig war, dass sich die Textur des Protests in Madrid wie in Kairo
       ähnelte. Den Kern der Revolte bildeten hier wie dort neben den Armen die
       enttäuschten Kinder des Bürgertums, die studiert hatten und nun arbeitslos
       waren, in Praktikum-Warteschleifen festhingen oder jobbten, ohne Aussicht
       auf Besserung. Die Welt, schreibt Wolfgang Kraushaar, „hat einen Aufruhr
       der Ausgebildeten erlebt“. Dies war (oder ist?) die erste globale
       Protestbewegung, seit Studenten 1968 in Paris, Berlin und Tokio
       aufbegehrten. So sieht es aus, aber es ist etwas komplizierter.
       
       Das Motiv des Aufruhrs in arabischen Staaten ist offenkundig. Bildung, das
       Aufstiegsversprechen für die Mittelschicht, hat sich dramatisch in ein
       Armutsrisiko verwandelt. In Marokko, Tunesien und Ägypten ist die
       Arbeitslosigkeit bei Hochschulabsolventen doppelt so hoch wie im
       Durchschnitt. Das Modell, dass ein Diplom einen Job im Staatsdienst
       garantiert, ist perdu. Das ist die Folie der Arabellion.
       
       Lange gab es im Westen alarmistische Warnungen vor der demografischen
       Bombe, die bald in der Region detonieren wird, vor Millionen frustrierten,
       perspektivlosen, aggressiven Jungmännern von Casablanca bis Jemen. Das
       Wunder der Arabellion ist, dass die Frustrierten immun gegen autoritäre
       Lösungen waren und den größten Demokratieschub in der Region seit der
       Entkolonisierung in Gang setzten. Man sollte das Staunen darüber nicht zu
       schnell verlieren.
       
       Kraushaar zitiert als Erklärung eine luzide Analyse des französischen
       Demografen und Politologen Emmanuel Todd, der 2007 tektonische
       Veränderungen der arabischen Gesellschaften notierte: Das Bildungsniveau
       stieg rapide, während die Geburtenrate sich seit 1980 halbierte. Diese
       stille Revolution erschüttert die patriarchale Familienordnung in ihren
       Grundfesten, dass auch die autokratische Staatsstruktur ins Wanken geraten
       würde, hielt Todd 2007 für eine Frage der Zeit.
       
       ## Facebook-Revolte?
       
       Mit Skepsis schaut Kraushaar auf das Label Facebook-Revolte. Wael Ghonim,
       Marketingexperte für Google und Aktivist des ägyptischen Umsturzes, gab den
       Slogan aus: „Um eine Gesellschaft zu befreien, braucht man ihr nur Zugang
       zum Internet zu geben.“ Kraushaar hält das zu Recht für übertrieben. Manche
       meinen sogar, dass die Revolte in Kairo erst richtig losging, nachdem die
       Machthaber Handys und Internet abgeschaltet hatten.
       
       Erst als die neuen Medien nicht mehr funktionierten, gingen die Massen auf
       die Straße, um mit eigenen Augen zu sehen, was los war. Viele wurden erst
       ohne Twitter zu Akteuren der Revolte – eine Art Dialektik der neuen Medien.
       Die Revolutionen finden nach wie vor nicht virtuell statt, sondern indem
       symbolische Orte besetzt werden. Zudem ist der Einfluss der TV-Sender
       al-Dschasira und al-Arabia kaum zu überschätzen.
       
       Kraushaar zeichnet die Chronik der Ereignisse sachlich und anschaulich
       nach, auch wenn direkte Zeugenschaft nicht geschadet hätte. Die
       überraschende Volte, die scharfe Pointierung, die ausgreifende These sind
       seine Sache nicht. Leider fehlen auch abstraktere Zugänge. Die Frage, ob
       die Individualisierungstheorie ein Schlüssel zur Erklärung dieser
       Bewegungen ist, wäre eine Diskussion wert.
       
       ## Globale Bewegung?
       
       Die Kernfrage lautet: Kann man wirklich von einer globalen Bewegung reden –
       oder war die Revolte gegen Mubarak & Co. und der Protest gegen Wall Street
       und Finanzkapitalismus nur eine zufällige zeitliche Überschneidung, ein
       Schein der Gleichzeitigkeit?
       
       „Wenn sie es schaffen, unseren Widerstand zu ersticken, wird das eine
       Prozent gewinnen – in Kairo, New York, London, Rom.“ Diesen Appell sandten
       im Herbst 2011 ägyptische Aktivisten an die Occupy-Bewegung in New York.
       Gegen die Regime in Tunis und Kairo, gegen Investmentbanker in New York –
       war oder ist das eine Front? Oder ist dies nur eine rhetorische
       Beschwörung? In Kraushaars Momentaufnahme bleibt diese Frage offen.
       
       Die Bewegung im Westen M12M in Lissabon, Occupy oder die spanische
       Graswurzel-Bewegung „Democratia real ya!“ verbindet jedenfalls ihre bis ans
       Diffuse grenzende Offenheit. Ihre programmatischen Texte sind durchweg
       freundliche Appelle, die das Recht auf menschenwürdige Jobs einklagen. Mehr
       soziale Gleichheit und mal Polemiken gegen den Neoliberalismus – viel
       anders klingen moderate Sozialdemokraten auch nicht.
       
       ## Der Bürger als handlungsfähiges Subjekt
       
       Neu ist indes das Misstrauen gegen alle Großorganisationen. Die spanische
       Graswurzelbewegung „Democratia real ya!“ proklamiert, dass es um „Menschen
       geht, die sich die Welt zu eigen machen, ohne Parteien, Gewerkschaften, die
       ihnen sagen, was sie tun sollen“. In diesem Bild des Aufstands der
       Individuen gegen die Organisationen leuchtet ein Bild des Bürgers als
       handlungsfähiges Subjekt. Alles soll die Kraft des Authentischen zum
       Besseren wenden, wenn es nur endlich ungebremst von Hierarchie, Anführern,
       in der Asembla, dem täglichen basisdemokratischen Forum, frei zum Ausdruck
       kommen darf.
       
       Dieser Gestus ist typisch für diese Bewegungen: Sie sind das Paradox einer
       individualistischen Revolte, der das Verbindliche, Formale suspekt ist. „Im
       Grunde vertreten sie eine Anti-Ideologie. Alles soll sich von Innen heraus
       entwickeln, alles Repräsentative ist ihnen fremd, jegliches
       Delegationsprinzip von Übel“, schreibt Kraushaar.
       
       Auch gender, class, race, generation sind bloß Grenzen von gestern, die das
       neue grenzenlose Wir der digitalen Communitys einschränken. Dieses schlicht
       anmutende Ideal spiegelt das Ethos des Internet: Alle dürfen mitmachen,
       alle dürfen alles. The media is the message. So sanft und offen
       protestieren die desillusionierten Kinder der Mittelschicht für mehr
       Gerechtigkeit.
       
       ## Wenig Ideen
       
       Die großformatige Erzählung, wie die Gesellschaft sein soll, sucht man bei
       Occupy & Co. vergebens. Man will Reformen, und außer dass es besser werden
       soll und alle mithelfen sollen, ist mitunter gar keine Idee zu erkennen. Es
       ist leicht, über diese Texte, die Kraushaar beschreibt, zu höhnen oder ihre
       Botschaft unsäglich albern zu finden. Doch wer das tut, hat den Schuss
       nicht gehört: So klingen Revolten im postideologischen Zeitalter eben.
       
       1968 ist für diese Bewegungen, Kraushaar deutet dies an, die falsche
       Blaupause. Es ist zwar wie damals die akademische Jugend, die mobil macht.
       Sie ist, wie 68, global vernetzt und versteht sich auf die effektive
       Nutzung von Medien. Doch den Jungakademikern standen 1968 alle
       Karrierechancen nach oben offen. Es war eine Revolte aus Lust, angetrieben
       von fiebrigen Befreiungsvisionen, die mitunter in stählernem Dogmatismus
       endete.
       
       ## Angst statt Romantik
       
       Die Jugend in Barcelona und Lissabon, wo fast die Hälfte der unter
       25-Jährigen arbeitslos ist, treibt keine politische Romantik auf die
       Straße, sondern Angst, zum Ausschuss zu gehören. Es geht 2012 um handfeste
       materielle Interessen, nicht um Lebensstile. Deshalb ist die Bewegung in
       der Exportnation Deutschland so klein.
       
       Und nun? Von Ulrich Beck stammt der fast immer verwendbare Aphorismus: Die
       sozialen Bewegungen kommen und gehen, vor allem gehen sie. Zwischen Tunis
       und Jemen waren die Bewegungen Enzym eines Umbaus. Die säkularen Autokraten
       sind vertrieben, die neue Ära ist durch eine labile Machtbalance zwischen
       Zivilgesellschaft, Islamisten und Militär geprägt.
       
       Vielleicht wird das ein neuer Weg in eine arabische Moderne, vielleicht
       nicht. Die Aktivisten der Revolte haben darauf jedenfalls wenig Einfluss.
       Das ist die Schattenseite ihrer Stärke, ihrer Offenheit. Darin ähneln sie
       in der Tat den Bewegungen im Westen. Der offene Gestus, der Verzicht auf
       ein hartes, kristallines Wir, auf die alte Identitätspolitik und
       Avantgarde-Ideen haben einen Preis: Flüchtigkeit.
       
       Wolfgang Kraushaar: „Aufruhr der Ausgebildeten. Vom Arabischen Frühling zur
       Occupy-Bewegung“. Hamburger Edition, Hamburg 2012, 255 Seiten, 12 Euro
       
       30 Apr 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Reinecke
       
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