URI: 
       # taz.de -- „Der Idiot“ in Köln: Der Mut eines Lächerlichen
       
       > Karin Henkel inszeniert „Der Idiot“ nach Dostojewski am Schauspiel Köln.
       > Lina Beckmann spielt Fürst Myschkin, Charly Hübner seinen Freund
       > Rogoschin.
       
   IMG Bild: Joerdis Triebel, Yorck Dippe, Jennifer Frank, Tanja Schleiff, Angelika Richter in „Der Idiot“ in Köln.
       
       Er kann es nicht begreifen. Warum ist der Mensch nicht glücklich, wenn er
       an einem Baum vorbeigeht? Warum erkennt er die Liebe nicht, wenn er einem
       Menschen begegnet? Fürst Myschkin weint und bedeckt sein Gesicht mit beiden
       Händen.
       
       Eben noch hat er zu einer großen Rede angesetzt, einer Predigt fast, um
       seine Zuhörer – und das könnten wir im Parkett des Kölner Schauspielhauses
       ebenso gut sein wie die Petersburger Gesellschaft der Zeit Dostojewskis –
       zu retten, zu überzeugen, dass sie so schlechte Menschen gar nicht sind,
       wie sie von sich selbst glauben. „Ihr seid Material, lebendiges Material!“
       
       Aber in seinen Furor, die Gesellschaft noch einmal als ein Experiment des
       Gutseins und Glücklichwerdens zu starten, dringt ein schleppendes Geräusch
       und ein Verwesungsgeruch. Rogoschin, sein finsterer Freund Rogoschin, zieht
       die Leiche von Nastassja heran, lang das dunkle Haar, weiß das Kleid, rot
       der Brustkorb, in den Rogoschin sein Messer stieß.
       
       Lina Beckmann spielt den Fürsten Myschkin in Köln. Sie ist eine große und
       starkknochige Frau, aber wie sie nun geht, in ihren fadenscheinigen
       Klamotten, den Stoffbeutel mit ihrer Serviette und dem Essbesteck über der
       Schulter, die Füße so vorsichtig setzend, als wäre dem Boden nie zu trauen,
       die Arme ungelenk schwenkend, spannungslos an allen Gliedern, da ist sie
       überzeugend jemand, dem Kraft und Stärke nie etwas galten.
       
       Die Schüchternheit Myschkins, seine Naivität und Vertrauensseligkeit, das
       ist bei ihr gut aufgehoben. Und nie überhöht die Inszenierung von Karin
       Henkel die Figur, sie setzt dem Narren keinen Heiligenschein auf, verklärt
       seine epileptischen Anfälle nicht ins Mystische.
       
       ## Intensität des Unglücks
       
       Der Wunsch, wenigstens etwas darzustellen und zu scheinen, ist im
       Petersburger Milieu des runtergekommenen Adels, der Kleinkriminellen und
       des Militärs, das Myschkin bei seiner Rückkehr nach Russland aus einem
       Schweizer Sanatorium vorfindet, die Antriebskraft fast aller, mindestens so
       wichtig wie die Suche nach Geld. Wie kann da jemand zu seiner Schwäche
       stehen, woher nimmt er den Mut, sich der Lächerlichkeit auszusetzen?
       
       Der Roman nimmt seinen Verlauf, weil diese bestürzende Aufrichtigkeit nicht
       nur jene jungen Frauen anzieht, die von ihren Eltern gerade wie eine Aktie
       auf dem Markt der Eheschließungen platziert werden, sondern auch die
       Betrüger, die genialen Händler mit nichts als dem Schein. Darin steckt ein
       großes Potenzial an dramatischen Szenen, an skandalösen Momenten und
       Ausbrüchen des Wahnsinns, die den Roman attraktiv für eine
       Bühnenbearbeitung machen.
       
       Karin Henkel, die zusammen mit der Dramaturgin Rita Thiele die Spielfassung
       erarbeitet hat, findet dabei für viele Elemente eine überzeugende
       Übersetzung. Nastassja (Lena Schwarz) zum Beispiel, deren Geschichte mit
       dem Missbrauch durch den Stiefvater beginnt und die die Intensität des
       Unglücks nie gegen Momente der Seelenruhe eintauschen kann, läuft durch die
       Inszenierung wie eine Femme fatale aus einem Bild der englischen Romantik,
       eine von Literatur, Malerei und Film so oft benutzte Kunstfigur, dass ihr
       wenig Eigenes dagegenzusetzen bleibt.
       
       ## Russische Seele
       
       Nie steht sie still, immer kommt sie oder geht sie, die Personifikation der
       Unruhe, des Hungers nach Bewunderung. Und hat man sie doch einmal
       vergessen, schiebt sie sich mit dem Hintern voran auf allen vieren wieder
       ins Bild, wie ein rückwärts laufender Hund, eine animalische Spur der
       sexuellen Gier, der sie sich im ständig sich verlängernden Wunsch nach
       Selbstbestrafung immer wieder aussetzt. Das ist mehr als die Verkörperung
       einer Romanfigur, das ist fleischgewordene Rezeptionsgeschichte und
       Literaturkritik an der Karriere der schönen Frauenleichen in der Kunst.
       
       Auch in der Reflexion der Übersetzung eines Romans in ein Bühnenstück
       gelingen der Regisseurin schöne Kunstgriffe. Wenn sämtliche Töchter der
       beiden in die Handlung verwickelten Familien mit dem Roman in der Hand eine
       Art Ballettunterricht absolvieren, bringen sie laut lesend nicht nur die
       Handlung weiter, sondern zeichnen zugleich eine ungefähre Skizze vom Milieu
       der Romanleser. Sie vertreiben sich die Langweile mit der Literatur in
       einer Art Zustand des Wartens auf das eigentliche Leben und kanalisieren in
       der Kunstübung ihre ungenutzten Energien.
       
       Doch Schwächen hat die vierstündige Inszenierung auch, manche Stilmittel
       wirken aufgesetzt und einige der Hauptfiguren haben zu wenig Raum, trotz
       einer erstklassigen Besetzung. Charly Hübner etwa spielt Rogoschin,
       misstrauisch gegenüber sich selbst, zwischen Freundschaft und Eifersucht
       zerrissen, am Rand der Bühne ständig wie eine dunkle Drohung präsent, kommt
       er doch in der Bühnenerzählung zu kurz. Ähnlich Aglaja, (Joerdis Triebel),
       die, in Fürst Myschkin verliebt, den Spott ihrer Familie über den Idioten
       nicht ertragen kann.
       
       „Der Idiot“ ist mehr als ein berühmter Roman Dostojewskis, er ist auch ein
       Zeugnis seines Projekts, die russische Seele und den wahren christlichen
       Glauben gegen den Rationalismus Westeuropas und den Katholizismus in
       Stellung zu bringen. Dass Dostojewskis Held auch eine Christusfigur ist,
       dafür findet die Inszenierung deutliche Signale. Aber letztendlich ist die
       Figur des Idioten gerade in ihrer leuchtenden Schwäche stärker als die
       missionarische Wut ihres Schöpfers. Man lernt mit ihm das Mitleid, aber
       nicht den Glauben, irgendeine wahre Lehre könne die Welt retten.
       
       23 Apr 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katrin Bettina Müller
       
       ## TAGS
       
   DIR Theater
   DIR Thalia-Theater
   DIR Theater
   DIR Theatertreffen Berlin
   DIR Deutsches Theater
   DIR Salzburger Festspiele
   DIR Arte
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Premiere „Der Idiot“ am DT Berlin: Ein Pferd läuft durch die Galerie
       
       Sebastian Hartmanns Inszenierung „Der Idiot“ nach Dostojewski in Berlin hat
       starke Momente. Und verirrt sich dann doch im Meer der Zeichen.
       
   DIR Gleichstand zum Saisonauftakt: Macht-Freak vs. Möchtegern-Jesus
       
       Zweimal triumphales Theater in Hamburg: „Richard the kid & the king“ am
       Schauspielhaus und „Der Idiot“ am Thalia Theater.
       
   DIR Dostojewski im Schauspielhaus Hamburg: Immerzu wird Klavier gespielt
       
       Um große Fragen von Sinn, Liebe und Glauben geht es in „Die Brüder
       Karamasow“. Oliver Frljić hat den Roman etwas geschwätzig in Hamburg
       inszeniert.
       
   DIR Theatertreffen in Berlin: Der Krieg kriecht ins Ohr
       
       Frauenrollen groß machen, Geschichten neu erzählen, dafür steht Karin
       Henkel. Sie ist zum siebten Mal beim Theatertreffen in Berlin dabei.
       
   DIR Theaterstück über antike Demokratie: Die Mütter der Diktatoren
       
       Karin Henkels Stück „Rom“ steckt voller impliziter Anspielungen auf die
       Gegenwart. Die Regisseurin erhält bald den Theaterpreis Berlin.
       
   DIR Salzburger Festspiele: Rhetorik der Einschüchterung
       
       Die Schauspieler sind gut. Trotzdem gelingt den Regisseurinnen Andrea Breth
       und Karin Henkel in Salzburg nicht der große Coup.
       
   DIR Biopic über Dostojewski: Resozialisierter Langweiler
       
       Arte zeigt ein russisches Biopic über den Klassikerautoren. Es startet
       hochdramatisch, verliert sich dann aber in Plattitüden und Endlosdialogen.
       
   DIR Schauspieler Ronald Zehrfeld: Der Menschenfreund
       
       Am Freitag werden die Deutschen Filmpreise vergeben. Ronald Zehrfeld ist
       für seine Rolle in „Barbara“ als bester Darsteller nominiert. Eine
       Begegnung.
       
   DIR Schauspieler Axel Prahl über Grips-Theater: „Ohne das Grips wäre Berlin armselig“
       
       Axel Prahl hat lange am Berliner Grips-Theater gespielt. Ihn ärgert, dass
       Kinder keine so starke Lobby haben wie Opernfans. Deswegen sei das Grips
       unterfinanziert.
       
   DIR Peymanns Prophezeiungen: Untergang des Abendlandes
       
       Claus Peymann, Intendant des Berliner Ensembles, kritisiert die
       Piratenpartei und die deutschen Gegenwarts-Dramatiker. Er verteidigt Günter
       Grass und präsentiert das Wien-Festival.
       
   DIR Zu wenig Geld fürs Kindertheater Grips: Klein, frech und stark
       
       Das Grips Theater war für Konservative in den 70ern ein rotes Tuch. Heute
       tourt es durch die ganze Welt und wird sogar von Ärzten verschrieben.