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       # taz.de -- Surfen mit Geigerzähler: „Made in Fukushima“
       
       > Yuichiro Kobayashi surft seit 30 Jahren vor der Küste Fukushimas. Doch
       > dann kam eine Welle, die alles veränderte. Jetzt will keiner seine
       > Surfbretter mehr kaufen.
       
   IMG Bild: Wenn Kobayashi heute eine Welle reitet, dann trägt sie ihn auf eine verwüstete Küste zu.
       
       Yuichiro Kobayashi surft mit Geigerzähler und Gebet. Wenn der Wind vom Land
       aufs Meer weht, dann sind die Wellen am schönsten, selbst die mächtigen
       brechen gemächlich. Am besten sind sie zu erreichen, wenn er von der
       Tsunami-Schutzmauer vor seinem Heimatort Numanouchi in der japanischen
       Provinz Fukushima aus ins Meer springt. Dann sucht sich Kobayashi eine
       wohlgesonnene Strömung, die ihm hilft, an den Punkt zu gelangen, wo sich
       die Wellen am höchsten auftürmen.
       
       Seit 30 Jahren lernt Kobayashi auf seinem Surfbrett an der Ostküste Japans
       den Wind und das Meer und seine Launen zu verstehen. Wenn der 49-Jährige
       heute eine Welle reitet, dann trägt sie ihn auf eine verwüstet Küste zu.
       Dann fällt ihm nur ein kurzes Gebet ein, mit dem er die Natur bittet, nie
       wieder die eine Welle zu schicken, die alles zerstört. „Ohne das Gebet
       könnte ich nicht mehr surfen“, sagt er.
       
       An diesem rauen Frühlingstag sowieso nicht. Eine eisige Brise fegt unter
       die Kleider, die Luft schmeckt nach dem Salz der Gischt. Das Meer ist viel
       zu aufgeschäumt und ungestüm, um es herauszufordern. Kobayashi blickt nur
       nachdenklich hinaus, geschützt hinter der Tsunami-Schutzmauer Numanouchis.
       Eine Mauer wie ein kleiner Burgwall, über einen Meter breit. Bevor nach
       einem kleinen Streifen Sandstrand das Meer beginnt, stapeln sich
       unmittelbar vor dem Wasser tonnenschwere Betonklötze als letzte Bastion.
       Gebracht haben diese nichts: Der Tsunami am 11. März 2011 hat die
       Betonklötze einfach mitgerissen, die Schutzmauer ebenso, an manchen Orten
       Japans hat er sie Kilometer weit ins Land getragen.
       
       Von den ersten Häuserreihen Numanouchis sind nur noch Grundmauern übrig.
       Doch als ob das Meer seine größten Verehrer bevorzugt behandelt, machte der
       Tsunami in Kobayashis Garten halt. Sein Haus steht noch. Es war das Glück
       der Topografie, das Dorf liegt geschützt in einer Bucht. Einen Kilometer
       weiter die Küste hoch ist so nah am Meer alles zerstört. Schicksal? „Es ist
       natürlich, was da passiert ist. Die Natur ist nicht zornig oder böse, sie
       ist, wie sie ist“, sagt Kobayashi. Solche Sätze ziehen sich durch seine
       Erzählungen.
       
       ## Das Gesicht von Wasser und Wellen gegerbt
       
       Kobayashi, Vater einer Tochter, ist ein fröhlicher, lässiger Mann, das
       Gesicht von Wasser und Wellen gegerbt. Er surft, schon immer, seit der
       Zeit, als man sich die Bretter noch selbst gebaut hat. Er hat das Wissen
       dazu in Australien erlernt und nach Japan gebracht und zimmert heute noch
       eigene Boards. Wahrscheinlich wäre er damit alt geworden. Wäre einfach nur
       eine Welle gekommen, mit all ihrer Zerstörung, doch dann kam auch noch die
       Strahlung.
       
       In diesem Frühling wäre das Wasser eigentlich voller Surfer. Im Frühling
       und Herbst schickt der Pazifik die besten Wellen, es ist die optimale Zeit,
       um hier zu surfen. Die Wellen kommen, nur die Sportler nicht. Besonders die
       Jungen, kein Mensch möchte in einer radioaktiven Brühe schwimmen und Angst
       haben, später behinderte Kinder zur Welt zu bringen. Die Befürchtung ist
       hier, rund 40 Kilometer vom Atomkraftwerk Fukushima Daiichi entfernt, aber
       völlig unbegründet. Anfangs ging Kobayashi noch mit dem Geigerzähler an den
       Strand. Dann begann er, Wasserproben in der Oberschule von Iwaki
       analysieren zu lassen. Seit über einem halben Jahr lassen sich keine
       unnatürlich hohen Werte an radioaktiven Isotopen mehr messen.
       
       In Tokio ist so etwas total egal. Von dort oder sonst wo aus Japan oder der
       Welt kommt keiner mehr. Japans Küste ist lang, überall Riffe und Strände
       mit Wellen jeder Schwierigkeitsstufe. Warum dann in die Region Fukushima,
       da wird man als Surfer radioaktiv. Denken zumindest viele. Sogar die
       Surfbretter scheinen verseucht. Seitdem das Kraftwerk zerstört ist,
       verkauft Kobayashi fast keine mehr.
       
       Sein Laden „Wavevision“ liegt ein paar hundert Meter landeinwärts, hinter
       einem der vielen Hügel, die aussehen, als hätte sie von oben jemand mit
       einem gigantischen Pinsel auf die Küste gekleckst. „Wavevision“ war mal
       eine kleine Tankstelle aus Wellblech, nur dass sich hier nicht Reifen und
       Motorenöl stapeln, sondern Surfbretter und Neoprenanzüge.
       
       Drinnen studieren ein paar Freunde Kobayashis die jüngsten
       Strahlenmessungen, die an einem alten Hawaii-Surfbrett aus Holz hängen, aus
       der Zeit, als die Bretter noch aus Holz waren. Auf dem Platz dahinter liegt
       Kobayashis „Fabrik“, wie er seine kleine Manufaktur nennt: Zwei rostige
       Baucontainer, in denen er liebevoll Boards von Hand fertigt,
       Kunststoffschichten aufträgt und wieder schleift. Am Boden hat sich eine
       kleine Mondlandschaft aus geschmolzenem Plastik aufgeträufelt.
       
       ## Jeden Tag mehr Minus
       
       Es riecht, als hätten die Kinder mal wieder mit Plastik gezündelt. Früher
       bestellten Surfprofis bei Kobayashi ihre Sportgeräte. Heute streicht er
       lächelnd über die raue, ungeschliffene Oberfläche eines halbfertigen
       Bretts, in dem bereits sein Logo eingearbeitet ist, rote Blumen ranken sich
       über das Brett. Keiner will es mehr haben. Kobayashi entschuldigt sich
       ausgiebig für die Plastikflocken, die an den Kleider kleben bleiben.
       
       Bis zu 2.000 Euro kostet ein Board, ein stolzer Preis, den niemand zahlt,
       wenn „Made in Fukushima“ draufsteht. „Wie soll ich in meinem Alter einen
       neuen Job finden?“, fragt er. Jeden Tag macht er mehr Minus. „Ich möchte
       weitermachen“, sagt er und schafft es, so melancholisch zu lächeln, als sei
       es eine Schande, angesichts der Zerstörung, der er entronnen ist, über
       halbfertige Surfbretter zu klagen.
       
       Als das Beben vor über einem Jahr kam, hat sich die Erde aufgebäumt wie
       sonst nur das Meer. Auch Kobayashi wäre fast von dem Tsunami begraben
       worden. Noch während die Erde bebte, fuhr er los zum Strand, um nach den
       Surfern zu schauen. Auf dem Wasser spürt man ein Beben nicht, wenn man sich
       gerade ohnehin durch die schäumenden Wellen nach draußen kämpft. Er sah
       niemanden mehr auf dem Wasser und rettete sich einen der vielen kleinen
       Hügel hinauf. Dann kam die Zerstörung.
       
       „Am Tag danach habe ich gesehen, wie Angehörige neben ihren verstorbenen
       Verwandten standen und sie zudeckten“, sagt er. Heute sieht er es wieder,
       wie in einem blassem Albtraum, an den er sich erinnert, während er seinen
       Wagen über holprige Pisten an der Küste lenkt. Die Piste war einst eine
       Strandpromenade von Toyoma, der zerstörte Nachbarort von Kobayashis
       Numanouchi. Toyoma war einer der besten Surfspots in Japan.
       
       Die Trümmer sind mittlerweile weggeräumt. Die mit blauer Plane abgedeckten
       enthalten neben den Resten der Häuser radioaktiv kontaminierte Erde. Übrig
       sind die Grundmauern wie aus einer antiken Stadt: Hier war ein Wohnzimmer,
       Rohre ragen aus dem Boden, wo einst ein Bad war. Dort ist eine Türschwelle,
       zu erkennen, weil jemand frische Blumen niedergelegt hat. Die Türschwelle
       ist für viele Angehörige der einzige Ort, der Verstorbenen zu gedenken,
       weil es von denen, die der Ozean mit sich gerissen hat, keine Gräber gibt.
       
       ## Plastikkopf von Godzilla
       
       Die Piste führt an der ehemaligen Schule vorbei. Der Plattenbau blieb
       stehen und ist so schnell evakuiert worden, dass bis heute ein Banner aus
       dem dritten Stock hängt, das der Schule zum Gewinn eines Volleyballturniers
       im benachbarten Iwaki gratuliert. Ein paar hundert Meter landeinwärts
       steigt das Land an, dort leben die verbliebenen Bewohner des Ortes, die
       nicht gehen wollen. Sie wollen einen Neuanfang. Der Supermarkt ist wieder
       aufgebaut.
       
       In seinen Trümmern haben sie einen medizinballgroßen Plastikkopf von
       Godzilla gefunden, der einst samt Godzillakörper am Eingang Kunden lockte.
       Jetzt liegt der Kopf deplatziert vor der Tür. Das Shiyoyazaki, das einzige
       Hotel der Stadt, ist ausgebucht – bewohnt von Strahlenarbeitern, die jeden
       Tag die Radioaktivität bekämpfen.
       
       Und während Kobayashi schweigend durch diese postapokalyptische Landschaft
       fährt, sagt er auf einmal: „Das Meer ist heilig. Wir müssen dankbar sein
       für das, was es uns gibt.“ Dankbar? Ja, dankbar. Sho ga nai. Alles kommt,
       wie es kommt.
       
       Übersetzerin: Maya Oberbäumer
       
       20 Apr 2012
       
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