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       # taz.de -- Sexuelle Kindesmisshandlung in Hamburg: Wenn die Jugendhilfe nicht hilft
       
       > Die Hamburger Jugendhilfe verschloss trotz Hinweisen offenbar seit zwei
       > Jahren die Augen vor einem Missbrauchsfall. Auch gegen eine
       > FDP-Abgeordnete wird ermittelt.
       
   IMG Bild: Hinweise über die Kindesmisshandlung gingen ins Leere.
       
       HAMBURG taz | Gut zwei Monate nach dem Tod der elfjährigen Chantal gibt es
       neue schwere Vorwürfe gegen den Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) in
       Hamburg. Der taz ist ein Fall bekannt, in dem der ASD offenbar jahrelang
       die Augen erst fest vor dem sexuellen Missbrauch eines Mädchens verschloss
       und es dann weiteren Gefahren aussetzte.
       
       Mittlerweile ermittelt die Staatsanwaltschaft, wie ihr Sprecher Gerald
       Janson der taz bestätigte, gegen sechs Mitarbeiterinnen der Jugend- und
       Familienhilfe im Bezirk Wandsbek wegen des Verdachts der "Verletzung der
       Fürsorge und Erziehungspflicht". Eine der Beschuldigten ist die
       Sozialpädagogin Martina Kaesbach, die für die FDP als Abgeordnete in der
       hamburgischen Bürgerschaft sitzt. Sie ist seit vergangenem Jahr der
       Amtsvormund des betroffenen Mädchens.
       
       Bislang konnten die Ermittlungen gegen die Politikerin noch unter der Decke
       gehalten werden. Und der Fall der heute neunjährigen Anna (Name geändert),
       der den Ermittlungen zugrunde liegt, würde wohl weiter vertuscht werden,
       hätte nicht die prominente Hamburger "Society-Reporterin" Bea Swietczak
       jetzt Alarm geschlagen. Die Journalistin entdeckte einen vermutlich
       jahrelangen Missbrauch der jungen Halbpolin und fand heraus, dass dieser
       dem ASD schon lange bekannt war. Als Reaktion erhielt sie Kontaktverbot zu
       dem Mädchen, mit dem sie indirekt verwandt ist.
       
       ## Ohne eigenes Bett
       
       Die unglaubliche Geschichte beginnt, als die siebzehnjährige Maria (Name
       geändert) über Facebook Kontakt zu Bea Swietczak aufnimmt. Jahrelang haben
       sich die beiden weitläufig verwandten Frauen nicht mehr gesehen. Sie
       treffen sich mehrfach, bis irgendwann Marias Freund der Klatschreporterin
       anvertraut: "Mit Anna stimmt was nicht", berichtet er über Marias jüngere
       Halbschwester, "die ist ganz komisch."
       
       "Für mich war das ein Hilferuf", sagt Bea Swietczak heute. Sie beschließt,
       der Familie in ihrer Steilshooper Wohnung einen Besuch abzustatten und
       trifft auf "ein Bild des Schreckens". Die siebenjährige Anna sitzt im
       abgedunkelten Raum vorm Fernseher und fängt an zu kreischen, als das Gerät
       abgeschaltet wird. Während der weiteren Visite zeigt das Mädchen, das noch
       einnässt und einkotet "weitere extreme Verhaltensauffälligkeiten", wie Bea
       Swietczak berichtet. Doch was die gelernte Pädagogin am meisten schockiert,
       ist, dass Anna kein eigenes Bett hat. Von Maria erfährt sie, dass das
       Mädchen stets im Bett der Mutter schläft - auch wenn deren aktueller Freund
       über Nacht bleibt.
       
       Sofort alarmiert Bea Swietczak das Jugendamt, den sozialpsychiatrischen
       Dienst und die Polizei. Diese durchsucht schließlich die Wohnung der Mutter
       und ermittelt auch heute noch gegen sie und ihren Freund "wegen des
       Verdachts der Vornahme sexueller Handlungen an einem Kind".
       
       ## Erste Hinweise im Frühjahr 2010
       
       Die alarmierten ASD-Mitarbeiterinnen bedanken sich zunächst überschwänglich
       bei Bea Swietczak. Man habe, bekommt Bea Swietczak zu hören, von
       Missständen innerhalb der Familie ja keine Ahnung gehabt, sei nun zum
       ersten Mal auf die Familie aufmerksam geworden.
       
       Das aber stimmt so nicht. Der taz liegen eidesstattliche Erklärungen und
       Dokumente vor, dass die Großmutter von Anna und Maria, den ASD Steilshoop
       schon im Frühjahr 2010 über den Verdacht informiert hat. In der Folge
       bittet der ASD die Mutter zweimal zum Gesprächstermin und lässt - nachdem
       diese nicht erscheint - die Vorwürfe auf sich beruhen. Inzwischen hat Bea
       Swietczak Indizien zusammengetragen, dass Anna schon zuvor von mindestens
       einem anderen Mann mehrfach missbraucht wurde und der ASD schon viel
       früher, als von ihm eingeräumt, "an der Familie dran war". Ohne, dass etwas
       passierte.
       
       Auch Maria glaubt sich an Kontakt zum Jugendamt zu erinnern. "Da hätte
       schon früher was passieren müssen, dann wäre es nie soweit gekommen", sagt
       die heute 18-Jährige. Doch mit dem Aufdecken des Missbrauchs hört die
       "lange Liste der Versäumnisse nicht auf", wie Bea Swietczak kritisiert.
       
       Zwar wird der Mutter das Sorgerecht entzogen und der Pädagogin und
       FDP-Politikerin Martina Kaesbach die Vormundschaft für Anna übertragen. Sie
       verantwortet mit, dass Anna, die inzwischen bei einer
       Übergangs-Pflegemutter wohnt, ihre alte Schule weiter besucht, die nur
       wenige Meter von ihrer früheren Wohnung entfernt liegt, in der ihre Mutter
       lebt und ihr mutmaßlicher Missbraucher ein- und ausgeht. Erst als zwei
       Tanten versuchen, das Kind vor der Schule abzugreifen und vermutlich nach
       Polen, dem Heimatland der Mutter zu verschleppen, wird das Kind aus der
       Schule genommen.
       
       ## Die Behörden wiegeln ab
       
       Wegen dieser und anderer mutmaßlicher "Verfehlungen" hat Bea Swietczak
       Martina Kaesbach und fünf andere ASD-Mitarbeiterinnen wegen der "Verletzung
       der Fürsorge und Erziehungspflicht" angezeigt. Seit fünf Monaten ermittelt
       die Staatsanwaltschaft.
       
       Die Behörden aber wiegeln ab. So erklärt der Sozial-Dezernent des
       Bezirksamts Wandsbek, Eric L., in einem der taz vorliegenden Schreiben, er
       könne "ein pflichtwidriges Verhalten in der Bearbeitung durch den ASD oder
       durch die Amtsvormünderin... in alledem nicht erkennen".
       
       Auch der von Bea Swietczak informierten CDU-Bürgerschaftsabgeordneten
       Viviane Spethmann gelingt es nicht, Licht in die Sache zu bringen. Eine
       Anfrage der Politikerin beantwortete die Sozialbehörde ausweichend: "Der
       Senat ist im Hinblick auf den Sozialdatenschutz nach Sozialgesetzbuch
       gehindert, die Fragen zu beantworten."
       
       Der taz versichert die Sprecherin des Bezirks Wandsbek, Anne Bauer: "Wir
       wissen von keinem Ermittlungsverfahren gegen Mitarbeiterinnen unseres
       Bezirks." Martina Kaesbach sagt: "Das ist eine dienstliche Angelegenheit,
       zu der ich mich nicht äußern werde."
       
       16 Apr 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Marco Carini
       
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