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       # taz.de -- Filmfestival in Hongkong: Mit fünf Tigern im Boxring
       
       > Die Filmindustrie von Hongkong schrumpft, das Filmfestival setzt auf
       > junge asiatische Regisseure und auf die glorreiche Tradition der
       > Martial-Arts-Spektakel.
       
   IMG Bild: Freundliche Einladung zum 36. Internationalen Filmfestival in Hongkong.
       
       Grenzerfahrungen: Wie geht das Leben nach dem Weltuntergang weiter oder
       unter einem pinkfarbenen Himmel oder auf dem Mond? Wie kommt man unter
       Leoparden und Giraffen oder am Rande der Gesellschaft zurecht? Wie richtet
       man sich in der Jauchegrube oder im Schuldenloch ein? Wie lebt ein ganzer
       Volksstamm im und auf, über und mit dem Meer? Mit solchen Fragen
       beschäftigen sich die jungen asiatischen Regisseure, deren Filme beim 36.
       Internationalen Filmfestival in Hongkong liefen.
       
       Einerseits schmückt man sich auch hier mit Filmen wie „Faust“, oder „Le
       Havre“, die schon auf europäischen Festivals ihre Erfolge feierten,
       andererseits sind dort schon etliche der asiatischen Filme gezeigt worden.
       Der „Fipresci“-Sieger „The Mirror Never Lies“ lief auf der Berlinale in der
       Reihe „Generation Kplus“; es ist der erste Film der Regisseurin Kamila
       Andini aus Indonesien, die darin den Überlebenskampf der „Seenomaden“ auf
       der Insel Wakatobi im Indischen Ozean zeigt. Ihr Vater Garin Nugroho gewann
       1996 den „Fipresci“-Preis im Forum-Programm mit „Und der Mond tanzt“.
       
       Ähnlich wie Cannes, Berlin und Venedig gibt es auch in Ostasien drei
       Festivals, die miteinander konkurrieren, allerdings ist hier die Rangfolge,
       was Etat, Bedeutung und Attraktivität betrifft, klarer festgelegt: Pusan,
       Taipeh, Hongkong. Nur dass Hongkong eindeutig mit der Uferpromenade und dem
       Blick auf die gegenüberliegende Skyline die aufregendste „Avenue der Stars“
       zu bieten hat.
       
       Dazu gehört auch eine Art „Open-Air-Museum“ mit lebensgroßen Statuen von
       Bruce Lee, dem „Jahrhunderthelden“, und einer „Film-Award-Figur“, der Kunst
       gewidmet, sowie einer Reihe von Schautafeln, die die Erfolgsgeschichte des
       Hongkong-Kinos beschwören: von den Shaw Brothers mit den historischen
       Dramen und Opern über die „Neue Welle“ mit Jackie Chan zu den
       Slapstick-Komödien, vom Siegeszug bei westlichen Festivals von Wong Kar-Wei
       und Maggie Cheung bis zur Eroberung Hollywoods durch John Woo und Jet Li.
       Danach ist dann freilich alles etwas ins Stocken geraten.
       
       ## Ermutigung von jungen Regisseuren
       
       So ist es sicher ein guter Schachzug, bei allen Preisen vom Gold-Glamour
       der Palmen, Bären und Löwen abzusehen und ganz auf die Ermutigung von
       jungen Regisseuren mit ihrem ersten, zweiten oder dritten Film zu setzen.
       Wo sonst sollte die Zukunft des Kinos auch liegen; allerdings darf man sich
       nicht gleich zu viel von ihnen erwarten. Sie trauen sich durchaus an die
       großen Fragen heran, aber dabei kommt es bekanntlich weniger auf die
       Antworten an als auf die Wege dorthin.
       
       So ist der Weltuntergang in „Young Dudes“ von DJ Chen nichts weiter als
       eine wilde taiwanesische Rock- und Drogenfantasie, die in einem
       Freiluftkonzert mit David Bowies Song endet; der japanische Film „About the
       Pink Sky“ von Kobayashi Keiichi beschwört – in Schwarzweiß – ein
       jugendliches Trio, das durch die Welt tobt wie einst Jules und Jim und
       Catherine, nur dass sie mit der Liebe nichts im Sinn haben, sondern vollauf
       mit dem Problem einer gefundenen Brieftasche beschäftigt sind.
       
       „Sauna on Moon“, eine China-Hongkong-Produktion, hat weder mit Fritz Langs
       fiktiver noch mit Neil Armstrongs realer Mondlandung etwas zu tun. Sein
       Thema ist ausschließlich das „älteste Gewerbe der Welt“, und dazu fällt dem
       Regisseur Zou Peng nicht viel Neues ein, abgesehen von dem komischen Moment
       eines Gruppentrainings für die Frauen in der Disziplin „Richtiges
       Vorspielen eines falschen Orgasmus“. Ansonsten kann der Film sich nicht
       recht entscheiden zwischen Tristesse und Talmiglanz, zwischen anrüchigen
       Reizen und banalem Alltag.
       
       Aber wichtiger als das, was der Film zeigt, ist sowieso das, wofür er
       steht: Prostitution gibt es ja eigentlich gar nicht, weil in China nicht
       sein kann, was nicht sein darf; mithin gibt es auch den Film nicht
       wirklich; er kann zwar irgendwie produziert, aber nicht gezeigt werden,
       außer auf Festivals, und sicher nicht in China. Auf solche Bedingungen muss
       sich die Filmproduktion Hongkongs einstellen, seit die ehemalige britische
       Kronkolonie 1997 weitgehend in die Volksrepublik eingegliedert wurde.
       Hongkongs Filmindustrie produzierte in den Goldenen Siebzigern jährlich bis
       zu 300 Filme, im Jahre 2011 nur noch 50. Nun steckt sie in der Zwickmühle.
       Es lockt ein riesiger neuer Markt, es schreckt eine schizophrene Zensur.
       
       ## Der fernöstliche Vetter von Eddie Constantine
       
       Da muss man eine reine HK-Produktion wie „Big Blue Lake“ von Jessey Tsang
       schon fast mit der Lupe suchen. Der Film ist ein autobiografisches Werk
       gegen die Umweltzerstörung in dem Heimatort der Regisseurin. Unter den
       aufwendigen Koproduktionen geben Action-Spektakel à la „Detective Dee and
       the Mystery of the Phantom Flame“ (2010) oder „Flying Swords of Dragon
       Gate“ (2011) von Tsui Hark den Ton an. Da lockt einen dann der Ort, an dem
       die Vergangenheit lebendig erhalten wird.
       
       Das Hong Kong Film Archive rekonstruiert die Filme, mit denen alles begann.
       1949 wurde der erste Film der „Wong Fei-hung-Saga“ gedreht, über hundert
       weitere folgten, die meisten in den 50er und 60er Jahren; das ist damit die
       längste Serie der Kinogeschichte geworden. Bei mehr als einem Viertel
       führte Wu Pang die Regie, Kwan Tak-hing spielte die Hauptrolle, 1991
       übernahm Tsui Hark mit seinem Darsteller Jet Li in „Once Upon a Time in
       China“. Im Laufe der Zeit wechselten Namen und Moden, Stilrichtungen und
       technische Erfindungen; was geblieben ist, ist der Mythos des Helden und
       die Magie des Kung-Fu.
       
       Man kann die Hauptfigur Wong Fei-hung als Vorläufer von James Bond ansehen
       oder als fernöstlichen Vetter von Eddie Constantine, der es freilich nicht
       mit Bienen und Blondinen zu tun hat, sondern Tyrannen zur Strecke bringt,
       Löwen bändigt, den Drachentempel rettet und es mit Banditen, Wölfen oder
       fünf Tigern im Boxring aufnimmt. Aber alle Vergleiche mit den westlichen
       Kino-Supermännern werden ihm nicht gerecht. Dafür steht er auf einer ganz
       anderen moralischen, konfuzianischen Basis. Er ist der zuverlässige Mentor
       seiner Schüler, unerbittlich gegen das Böse, barmherzig gegenüber den
       Schwachen, ein Vorbild für das Volk, ein Philosoph und Künstler des
       Kampfes.
       
       Aber bei allem Respekt vor der Martial-Arts-Tradition: damit allein wird
       das Hongkong-Kino seine Zukunft nicht gewinnen können. Dennoch wartet jetzt
       jeder gespannt auf den nächsten Versuch in diesem Genre, und das ist „The
       Grandmasters“ von Wong Kar-Wai.
       
       10 Apr 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Helmut Merker
       
       ## TAGS
       
   DIR Spielfilm
       
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