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       # taz.de -- NRW-Wahlkampf der FDP: Trotz Kritik und Häme
       
       > Christian Lindner gilt als alleiniger Hoffnungsträger der FDP. Scheitern
       > die Liberalen in Nordrhein-Westfalen, droht bundesweites Chaos.
       
   IMG Bild: Mit 394 von 395 Stimmen gewählt: Christian Lindner (rechts).
       
       DUISBURG taz | Mit 33 Jahren will Christian Lindner die FDP retten. „Mit
       Selbstbewusstsein, trotz aller Kritik und Häme“ werde er in den
       nordrhein-westfälischen Wahlkampf ziehen, verkündet Lindner, bevor er am
       Sonntag mit 99,75 Prozent vom FDP-Parteitag in Duisburg zum
       Spitzenkandidaten gewählt wurde. Und obwohl er die Bundespartei bis Ende
       Dezember selbst als Generalsekretär mitgeführt hat, kritisiert er: „Die
       Staatskunst“ habe zu oft gefehlt.
       
       Auch in seinem heimatlichen Rheinisch-Bergischen Kreis ist man überzeugt:
       Wenn einer die Partei in den Landtag bringen könne, dann der einstige
       Shootingstar, der mit Anfang zwanzig schon Porsche fuhr und mit 21 als
       jüngster Abgeordneter überhaupt in das Düsseldorfer Landesparlament einzog.
       Doch auch der Frust ist groß.
       
       „Wir sind in jedes denkbare Fettnäpfchen getreten“, bilanziert Mario
       Bredow, Vizeparteichef in der Gemeinde Kürten. Er denkt an die
       Steuerermäßigung für Hoteliers, an Guido Westerwelles spätrömisch-dekadente
       Beschimpfung sozial Schwacher. „Wir können es nur besser machen“, findet
       auch Gerald Karich, FDP-Vorsitzender in Bergisch Gladbach.
       
       Das gilt für die FDP insgesamt. Wird sie an Rhein und Ruhr in die
       außerparlamentarische Opposition gezwungen, steht nicht nur ihr
       Bundesvorsitzender Philipp Rösler vor dem Rücktritt. Die von ihrer
       Niederlagenserie zutiefst verunsicherte Partei könnte ins Chaos rutschen.
       In Berlin werden längst Szenarien durchgespielt, nach denen
       Bundestagsfraktionschef Rainer Brüderle oder Entwicklungshilfeminister Dirk
       Niebel Rösler beerben könnten, um Kontinuität zu simulieren.
       
       Doch Lindner kämpft, auch wenn seine als „Boygroup“ gefeierte Freundschaft
       zu Rösler und Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr, den er am 6. Mai als
       Landesvorsitzender beerben wird, längst zerbrochen ist. Mag Bahr auch
       betonen, er habe Lindner „ins Team“ berufen – allein Lindners Ankündigung,
       als Spitzenkandidat anzutreten, hat 2 Prozentpunkte gebracht. Trotzdem
       rangiert die FDP im Umfragen bei gerade mal 4 Prozent – für das
       parlamentarische Überleben reicht das nicht.
       
       ## Mehr als 1 Mio. Euro verbrannt
       
       Der einstige Unternehmer Lindner, der während des New-Economy-Hypes mehr
       als 1 Million Euro der KfW-Bank mit einer Internet-Klitsche verbrannt hat,
       setzt deshalb auf klassische FDP-Themen: In der Finanzpolitik stehe
       SPD-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft für das „Prinzip Griechenland“,
       verkündet er in Duisburg. Aufgeschreckt vom rot-grünen „Schulkonsens“ mit
       der CDU sorgt sich Lindner um die „unterprivilegierten“ Gymnasien. An den
       Universitäten will er die Studiengebühren wieder einführen, auch wenn die
       Jungen Liberalen das Gegenteil beschlossen haben.
       
       Auf Konfrontation geht die One-Man-Show FDP nicht nur zu den Grünen,
       sondern auch zum CDU-Spitzenkandidaten und Bundesumweltminister Norbert
       Röttgen. Dessen grüner NRW-Kollege Johannes Remmel gefährde mit seiner
       Klimaschutzpolitik „den Industriestandort Nordrhein-Westfalen“, behauptet
       Lindner immer wieder.
       
       Auch die Piraten ging Lindner hart an: Die setzten mit ihrer geforderten
       Urheberrechtsreform auf die „Erschleichung geistigen Eigentums“ und
       förderten mit ihren Forderungen nach „Bereitstellung“ von bedingungslosem
       Grundeinkommen, freiem Internet und kostenlosem öffentlichen Nahverkehr
       eine „Gratismentalität“, findet der FDP-Spitzenkandidat: „Die Piraten sind
       nicht liberal, sondern eine Art Linkspartei mit Internetanschluss.“
       
       Nur überzeugt hat Lindner längst nicht alle: Auch die bisherige
       Landtagsfraktion zeigt Auflösungserscheinungen. Die Ostwestfälin Ingrid
       Pieper-von Heiden verzichtet – und nährt so den Eindruck, die FDP sei eine
       Männerpartei. Zwar verspricht Lindner, beim potenziellen Wiedereinzug in
       den Landtag würden Frauen „genauso stark repräsentiert“ wie vor der Wahl,
       doch bisher waren von 13 Fraktionsmitgliedern nur zwei Frauen.
       
       Ebenfalls nicht motivieren konnte Lindner Stefan Romberg. Der 42-jährige
       Abgeordnete konnte sich lange nicht entscheiden, ob Wahlkampf überhaupt
       lohnt: In seinem Beruf als Mediziner soll ein Karrieresprung auf ihn
       warten. Die Ibbenbürener Volkszeitung bangt bereits, das „Münsterland werde
       wohl keinen liberalen Abgeordneten mehr stellen“. Gut möglich, dass dies
       bald für ganz NRW gilt.
       
       1 Apr 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Wyputta
       
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