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       # taz.de -- Der Attentäter von Toulouse: Vorsicht ist geboten
       
       > Mohamed Merah soll Salafist gewesen sein und Mitglied von al-Qaida. Doch
       > was bedeutet das? Und wie steht es generell um Frankreichs Muslime?
       
   IMG Bild: Die öffentlichen Spekulationen über Beweg- und Hintergründe des Attentäters von Toulouse haben gerade erst begonnen.
       
       PARIS taz | War Mohammed Merah ein durchgeknallter Einzeltäter oder gehörte
       er einer terroristischen Bewegung an? Lässt er sich einer
       radikalislamischen Strömung zuordnen? Und welche Rolle spielte der Islam
       für ihn?
       
       Noch lässt sich keine dieser Fragen mit Sicherheit beantworten. Unterdessen
       werden dem jungen Serienmörder allerlei Etiketten aufgeklebt: Er sei ein
       Salafist oder ein Dschihadist, heißt es. Und er habe sich selber zu der
       Terrororganisation al-Qaida bekannt.
       
       Das französische Innenministerium schätzt die Zahl der Salafisten in
       Frankreich auf etwa 12.000, also eine winzige Minderheit der
       schätzungsweise 5 bis 6 Millionen Muslime in Frankreich. Offizielle
       Statistiken zur Religionsangehörigkeit gibt es in Frankreich wegen der
       strengen Trennung von Religion und Staat nicht.
       
       Der Salafismus ist keine organisierte Bewegung, eher eine Tendenz „zurück
       zu den Wurzeln“ des Islam – salaf ist das arabische Wort für Vorfahren. So
       sind die saudi-arabischen Wahhabiten lediglich eine Strömung innerhalb der
       Salafisten.
       
       ## Überwindung des inneren Schweinehunds
       
       Der französische Islam-Experte Samir Amghar, der im vergangenen Jahr ein
       Buch zum Salafismus in Europa veröffentlicht hat, unterscheidet
       verschiedene Formen dieser Radikalisierung: Manche ziehen sich auf ihre
       persönliche Frömmigkeit zurück, andere wollen missionieren, werden
       gewaltbereit.
       
       Dschihad, der heilige Kampf, kann als Überwindung des inneren Schweinehunds
       verstanden werden, aber eben auch als bewaffneter Kampf gegen
       Andersgläubige.
       
       Eine radikale Religion ist identitätsstiftend – weshalb sich in erster
       Linie Menschen angezogen fühlen, die anderswo benachteiligt werden. In
       Frankreich sind dies häufig Sprösslinge aus maghrebinischen
       Einwandererfamilien, die zwar die französische Staatsangehörigkeit haben,
       aber in sozial schwachen Vorstädten leben, in denen sie keine Arbeit
       finden.
       
       ## Ein Einzeltäter?
       
       Nach gängiger Vorstellung kleiden sich Salafisten in lange Gewänder und
       tragen Häkelkappen. Das traf auf den jungen Mohamed Merah nicht zu, der auf
       einem Amateurvideo mit rasiertem Kopf erscheint und nach französischen
       Medienberichten zeitweise einen roten Irokesenschnitt trug.
       
       Waren ihm äußere Zeichen nicht so wichtig – oder hat er sich bewusst nicht
       in traditionelle Kleidung gehüllt, um nicht aufzufallen? Allerdings soll er
       gemeinsam mit seinem Bruder seine Mutter gedrängt haben, einen Schleier zu
       tragen. Das Etikett „al-Qaida“ ist besonders heikel. Es kann Ausdruck des
       Geltungsbedürfnisses des 23-Jährigen sein. Was ist furchterregender als
       Mitgliedschaft in der Terrororganisation?
       
       Vorsicht ist aber auch geboten, wenn die Behörden allzu schnell erklären,
       dass es sich um einen Einzeltäter ohne jede Verbindung zu festen Strukturen
       handelt: Schließlich will Frankreich sich nicht vorwerfen lassen, sein
       Geheimdienst habe versagt. Entscheidend ist dabei die Frage, wie Mohamed
       Merah seine Reisen nach Afghanistan und Pakistan und sein Waffenarsenal
       organisiert und finanziert hat.
       
       Ist er tatsächlich auf eigene Faust gereist, um sich in Afghanistan zum
       Terroristen ausbilden zu lassen? Hat er im Auftrag einer Organisation
       gehandelt – oder war er lediglich größenwahnsinnig und von einem diffusen
       Sendungsbewusstsein erfüllt. Die Ergebnisse der Ermittlungen werden mit
       Hochspannung erwartet.
       
       23 Mar 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrike Koltermann
       
       ## TAGS
       
   DIR „Islamischer Staat“ (IS)
       
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