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       # taz.de -- Ethikrat debattiert über Hirntod-Konzept: Das funktionelle „Nichts“
       
       > Der Deutsche Ethikrat holte sich für sein Forum „Hirntod und
       > Organentnahme“ einen Kritikerstar aufs Podium. Angehörige und
       > Pflegekräfte wurden nicht gefragt.
       
   IMG Bild: Lebt ein Organismus auch nach dem Ausfall des Gehirns weiter? Im Hinblick auf die Organspende wird diese Frage kontrovers diskutiert.
       
       BERLIN taz | Wer Organspende will, muss vom Hirntod reden. Doch damit würde
       sich kaum einer befassen, wenn der Bundestag derzeit nicht das
       Transplantationsgesetz änderte und sich viele Menschen fragen, ob sie
       wirklich tot sind, wenn sie ihre Organe spenden. Insofern war der
       verzweifelte Appell der Neurologin Stefanie Förderreuther, die Feststellung
       des Todeszeitpunkts eines Menschen aus diesem Kausalzusammenhang zu lösen,
       obsolet. Der Tod ist ein existenzielles Ereignis und immer in konkrete
       soziale Kontexte eingebunden.
       
       Das wäre vielleicht anschaulicher geworden, hätte sich der Deutsche
       Ethikrat nicht darauf beschränkt, für sein Forum „Hirntod und
       Organentnahme“ am Mittwoch ausschließlich wissenschaftliche Experten zu
       laden, sondern auch die, die im Alltag damit konfrontiert sind,
       Pflegekräfte etwa und die Angehörigen von Spendern. Dabei hatte er sich mit
       dem Neurologen Alan Shewmon aus Los Angeles einen Kritikerstar aufs Podium
       geholt.
       
       Ist das Gehirn die exklusive Instanz, die den Organismus aufrecht erhält
       und der ohne dessen Integrationsleistung zusammenbricht? Beweisen spontane
       Lebenszeichen nicht vielmehr, dass ein Organismus auch nach Ausfall des
       Gehirns weiterlebt?
       
       ## Zweifel an der empirischen Evidenz
       
       Mochte Shewmons medizinischer Parcours das Auditorium überfordern, seine
       Zweifel an der empirischen Evidenz der „inneren Enthauptung“, die erlaubt,
       einen Menschen für tot zu erklären, kamen an. 170 Fälle hat Shewmon
       zusammengetragen, die belegen, dass Teile des menschlichen Organismus’ auch
       nach dem diagnostizierten Hirntod nicht unmittelbar absterben, sondern
       weiterexistieren können, teils über Monate, sofern der Körper weiter
       beatmet wird. Die Nulllinie des EEGs und Computerschnitte, die das
       funktionelle „Nichts“ des Hirns beweisen, widerlegen dies nicht.
       
       Wenn aber das Sterben ein zeitliches Kontinuum ist, versuchte sich der
       Potsdamer Ethiker Ralf Stoecker aus der Affäre zu ziehen, ließe sich doch
       ein „Zwischenzustand“ definieren und ein Regelwerk formulieren, wie mit
       diesem „abgestuften“ Leben umzugehen sei.
       
       Unter Umständen sei das Transplantationssystem auch zu retten, indem man
       die „dead donor rule“, also der Tod als Voraussetzung der Organentnahme,
       ganz fallen ließe, statt eine „wackelige“ Hirntoddefinition aufrecht zu
       erhalten. Das wies aber nicht nur der Philosoph Michael Quante, wie fast
       alle übrigen Referenten überzeugt vom Hirntodkonzept, zurück: Eine
       todesunabhängige Organentnahme schüre Misstrauen in der Bevölkerung.
       
       Nützt es dem hirntoten Patienten überhaupt noch, wenn er weiterlebt? Die
       Irreversibilität des Sterbeereignisses war in der Transplantationsdebatte
       einst der argumentative Hebel und überlagerte den Nützlichkeitsaspekt, der
       in Förderreuthers Frage zum Ausdruck kommt. Man könnte sie nämlich anders
       formulieren: Es mögen die Organe dem Patienten auf der Warteliste nützen,
       aber was „nützt“ ihre Entnahme dem Spender? Eine Nutzenbeziehung zwischen
       Menschen ist in sensiblen Lebensphasen besonders prekär. Davon war auf der
       Veranstaltung überhaupt nicht die Rede.
       
       22 Mar 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrike Baureithel
       
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