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       # taz.de -- Dramaturg über Wolfgang Herrndorf: „Sand ist ein Buch-Buch“
       
       > Bekommt Wolfgang Herrndorf den Preis der Leipziger Buchmesse? Robert
       > Koall, Freund des krebskranken Autors, über dessen Bücher „Tschick“,
       > „Sand“ und die seltsame deutsche Kritik.
       
   IMG Bild: „Ein auf eine angenehme Weise verrätseltes Buch“: „Sand“ – mit oder ohne Schatten.
       
       taz: Herr Koall, die Literaturkritik hat Schwierigkeiten damit, Wolfgang
       Herrndorfs Roman „Sand“ einzuordnen: Agententhriller, Roadmovie,
       Jugendroman. Der Autor selbst spricht von einem „Trottelroman“. Überfordert
       Herrndorf die deutschen Kritiker? 
       
       Robert Koall: Er hat mir von den drei Fragen erzählt, die die Presse mir
       stellen wird: Warum heißt das Buch „Sand“? Warum spielt es 1972 und nicht
       2001? Was ist das eigentlich für ein Genre? Alle drei sind mir vollkommen
       unverständliche Fragen. Herrndorf hatte den Plan, ein wahnsinnig spannendes
       Buch zu schreiben. Ob das ein Agententhriller oder dessen Persiflage ist,
       eine postkoloniale Wüstensatire oder ein Wüstenroman, wie sein Arbeitstitel
       lautete – was spielt das für eine Rolle? Es ist ein auf eine angenehme
       Weise verrätseltes Buch, bei dem man sich so langsam seinen Weg durch das
       Dickicht bannen muss. Es ist gleichzeitig komisch, berührend, spannend und
       traurig. Mehr kann man doch nicht verlangen, oder? Und vielleicht hat
       Herrndorf ja ein eigenes Genre geschaffen.
       
       Herrndorf zitiert irgendwo Vladimir Nabokov damit, dass man den ganzen
       Mist, den Literaturkritiker schreiben, vergessen kann und dass man gute
       Literatur daran erkennt, dass sie einen kalt erwischt. Sie haben die
       Bühnenfassung von „Tschick“ geschrieben. Was hat Sie an dem Buch kalt
       erwischt? 
       
       Es ist eine Universalsehnsuchtsgeschichte. Die Voraussetzung aller
       Jugendgeschichten. Man ist allein. Man ist in einer Welt ohne Erwachsene.
       Man hat Zeit und alle Möglichkeiten, sich zu bewegen in der Welt, in diesem
       Fall mit einem Lada. Und dann einfach aufbrechen, losfahren und auf völlig
       verschiedene Menschen treffen. Das hat mich sehr berührt. Hinzu kommt, dass
       Herrndorf eine einmalige Art hat, Humor und Sehnsuchtsmomente miteinander
       zu verbinden, ohne dass es kitschig wird. Man muss das erst mal hinkriegen,
       zwei 14-Jährige unter dem Sternenhimmel liegen zu lassen, die über das
       Weltall, die Unendlichkeit und die Sterblichkeit reden, aber in einer
       Szene, die einen berührt und über die man sich totlachen muss, weil sie
       sich gleichzeitig über Insektenkino unterhalten. Das Buch kommt absichtslos
       daher. Es drückt nie auf die Pointe, nie auf den Kitsch. Und trotzdem ist
       beides immer da.
       
       Ist „Tschick“ ein theatralisches Buch? 
       
       Erst mal überhaupt nicht. Aber es hat eine Sprache, die erst im
       Gesprochenen besonders aufblüht. Herrndorf hat mir mal erzählt, dass er
       beim Schreiben viel Wert auf den Klang der Sachen legt. Weshalb er beim
       Schreiben oft laut vor sich hin spricht. Die Sätze, die beim Lesen schon
       komisch, seltsam oder anrührend sind, werden noch mal größer, wenn sie aus
       einem Schauspielermund kommen.
       
       Eignet sich „Sand“ auch für die Bühne? 
       
       Nein. Jetzt kommt ein blödes Wort: Aber „Sand“ ist ein Buch-Buch. Es spielt
       viel stärker mit Literatur, Zitaten und der Virtuosität, wie es Motive
       setzt und auflöst, aber das kommt vom auktorialen, also allwissenden
       Erzählstil. Das Verwechslungsspiel des Buches taugt mehr für den Film. Und
       den gucke ich mir gerne an.
       
       Sind die Filmrechte schon verkauft? 
       
       Sag ich nicht.
       
       „Tschick“ geht am Ende versöhnlich aus. „Sand“ nicht. Sind die beiden
       Bücher zwei Seiten einer Medaille? 
       
       Die Deutung liegt ja nahe. Deswegen ist sie aber auch nicht falsch.
       Herrndorf selbst hat gesagt, „Sand“ sei der nihilistische Gegenentwurf zu
       „Tschick“. Tschick sagt an einer Stelle, er sei immer davor gewarnt worden,
       mit Fremden zu reden oder in ihre Autos zu steigen. Aber er macht die
       Erfahrung, dass alle Fremden wahnsinnig nett und hilfsbereit sind. Das
       würde Amadou Amadou in „Sand“ so nicht sagen. Denn er ist mit einer kalten
       und feindlichen Welt konfrontiert. Die Frage ist, ob das was bedeuten muss
       oder ob der Autor einfach Lust hatte, sich möglichst weit von dem anderen
       Buch zu entfernen. Aber es gibt natürlich Spiegelungen: In jedem Buch wird
       eine Personen als „Psycho“ beschimpft, und am Ende wird Tabula rasa
       gemacht.
       
       Rechnen Sie damit, dass „Sand“ den Preis der Leipziger Buchmesse heute
       bekommt? 
       
       Als Theatermann bin ich kein Prophet für den Buchmarkt. Da fünf Bücher
       nominiert sind, rechne ich zu einem Fünftel damit.
       
       Das Kulturkaufhaus Dussmann verkauft „Tschick“ mit dem Aufkleber
       „Hochkaräter“. Das Buch war letztes Jahr ebenfalls für den Leipziger
       Buchpreis nominiert. Alle rechneten damit, dass es ihn auch bekommt. Hat es
       aber nicht. Warum? 
       
       Das ist mir ein völliges Rätsel. Vielleicht stand „Tschick“ unter
       Leichtigkeitsverdacht. Ich meine das ernst und nicht flapsig, wenn ich
       sage, ich kann es mir nicht erklären. Denn ich kenne kein Buch aus den
       letzten Jahren, das bei allen, mit denen ich drüber rede, wirklich
       Begeisterung auslöst und zwar von 12-Jährigen bis zu 72-Jährigen. Es ist
       ein generationenübergreifendes Buch, das jeden zehnmal lachen und zehnmal
       weinen lässt. Das muss man erst mal hinkriegen.
       
       Gehen Leichtigkeit und große Kunst hierzulande immer noch nicht zusammen? 
       
       Den Eindruck könnte man kriegen. Ich bin derselben Meinung wie der
       Aufkleber: „Tschick“ ist ein Hochkaräter und große Kunst. Aber ein gewisser
       Intellektualitätssnobismus ist mir auch aus der Theaterwelt bekannt. So
       eine Art von E-Snobismus. Im Theater ist das beispielsweise der Verdacht
       des well-made play. Mit diesem Begriff wird ein Stück hierzulande schnell
       klein gemacht. In Großbritannien oder den USA ist das hingegen eine
       Auszeichnung, wenn man beispielsweise von den Stücken David Mamets („Wenn
       der Postmann zweimal klingelt“) spricht. Das ist bei Literatur offenbar
       auch so. Interessanterweise wird das nie von den Lesern, sondern immer nur
       von der Kritik so gesehen.
       
       Ist es also vielleicht für Herrndorf sogar eine Auszeichnung, wenn er den
       Buchpreis in Leipzig wieder nicht bekommt? 
       
       Das kann ich ihm ja dann sagen, dass er zum zweiten Mal in Folge
       ausgezeichnet wurde.
       
       Und wenn „Sand“ den Buchpreis bekommt – was sagen Sie dann? 
       
       Muss man da was sagen? Ich mache das gern. Aber der Vorgang ist so absurd,
       dass ich ihn dort vertrete und wir hier miteinander sprechen. Aber das ist
       eben so.
       
       Ist das für den Literaturbetrieb ein Problem, dass Herrndorf sich entzieht,
       keine Interviews und keine Lesungen gibt? 
       
       Fragen Sie den Betrieb. Aber dass ohne Marketing ein Bestseller wie
       „Tschick“ rauskommt, ist der Beweis, dass es auch ohne die Maschine
       funktionieren kann. Der Verlag beschwert sich da sicher nicht. Herrndorf
       würde sich, glaube ich, auch wenn er gesund wäre, 100-mal überlegen, ob er
       zur Buchmesse oder zu solchen Terminen geht. Diese Haltung hat nicht nur
       damit zu tun, dass es ihm gesundheitlich nicht gut geht, sondern dass es
       ihm mit solchen Terminen nicht gut geht. Und dass er das, was er zu sagen
       hat, in seinen Blog und seine Bücher schreibt.
       
       15 Mar 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Doris Akrap
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