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       # taz.de -- SPD-Politikerin über deutsche Kriminalpolitik: „Wir müssen Bürger schützen“
       
       > Wann muss ein Täter nachträglich in die Sicherungsverwahrung?
       > SPD-Politikerin Christine Lambrecht über Schutz der Bevölkerung und
       > Vermeidung von Rückfällen.
       
   IMG Bild: „Die nachträglich angeordnete Sicherungsverwahrung ist ein sehr schwerer Grundrechtseingriff“, sagt Christine Lambrecht.
       
       taz: Frau Lambrecht, die SPD fordert die Wiedereinführung der nachträglich
       angeordneten Sicherungsverwahrung. Ist das nicht klassisch konservativ? 
       
       Christine Lambrecht: Überhaupt nicht. Der Schutz der Bevölkerung vor
       gefährlichen Straftätern ist eine typisch sozialdemokratische Position. Es
       kann nicht sein, dass ein Gewalt- oder Sexualstraftäter aus der Haft
       entlassen werden muss, nur weil seine fortdauernde Gefährlichkeit erst in
       der Haft erkennbar wurde.
       
       Sie wollen sogar Haftentlassene in Verwahrung nehmen, wenn sich ihre
       Gefährlichkeit erst nach der Entlassung ergibt. Landen Menschen bald schon
       vor der ersten Tat in Sicherungsverwahrung, wenn Gutachter sie für
       gefährlich halten? 
       
       Das wird es mit der SPD nie geben. Es geht uns nur um die Vermeidung von
       Rückfällen. Wenn aber jemand schon einmal gezeigt hat, wie gefährlich er
       ist, dann muss es auch möglich sein, bei neuen Erkenntnissen eine
       Haftentlassung zu korrigieren. Es geht dabei auch nur um einen Zeitraum von
       zwei Jahren ab der Entlassung.
       
       Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat 2011 die nachträglich
       angeordnete Sicherungsverwahrung beanstandet: Hier fehle der direkte
       Zusammenhang zwischen Strafurteil und zusätzlicher Freiheitsentziehung.
       Wollen Sie das Straßburger Urteil ignorieren? 
       
       Natürlich nicht. Eben deshalb verlangen wir neben der Gefährlichkeit des
       Straftäters künftig noch eine psychische Störung. Dann ist eine
       Freiheitsentziehung auch ohne Bezug zu einem Strafurteil möglich.
       
       Bis zur Abschaffung 2010 haben die deutschen Gerichte fast alle
       nachträglichen Anträge auf Sicherungsverwahrung abgelehnt. Wäre das künftig
       anders? 
       
       Wahrscheinlich nicht. Bei den Ablehnungen ging es meist um die Frage, ob
       die fortdauernde Gefährlichkeit wirklich erst in der Haft deutlich wurde.
       Wenn es keine echt neuen Erkenntnisse – sogenannte ’Nova‘ – gab, haben die
       Gerichte die nachträgliche Anordnung von Verwahrung abgelehnt. Zu Recht.
       Rechtskräftige Strafurteile müssen respektiert werden, auch wenn sie im
       Nachhinein als zu milde erscheinen.
       
       Außerdem gibt es im geltenden Recht eine Altfall-Regelung. Ist die nicht
       ganz in Ihrem Sinne? 
       
       Doch. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung wurde nur für Neufälle
       abgeschafft. Für alle Taten, die bis Ende 2010 begangen wurden, kann noch
       jahrelang nachträglich die Verwahrung beantragt werden. Die SPD hat das
       ausdrücklich mitgetragen.
       
       Aber wo sehen Sie dann große Schutzlücken? 
       
       Die Schutzlücke besteht bei den Straftätern, die nicht mehr unter die
       Altfallregelung fallen und deren hochgradige Gefährlichkeit sich erst im
       Strafvollzug erweist. Auch eine kleine Schutzlücke, die man mit
       rechtstaatlichen Mitteln schließen könnte, ist für die Bevölkerung
       unzumutbar, wenn es um drohende schwere Rückfalltaten geht.
       
       Wie viele derartige Fälle gibt es voraussichtlich? 
       
       Ich denke, es sind nur ganz wenige. Schließlich wissen wir, dass die
       nachträglich angeordnete Sicherungsverwahrung ein sehr schwerer
       Grundrechtseingriff ist.
       
       Bei der nachträglichen Sicherungsverwahrung streiten SPD- und
       Unions-Politiker Seite an Seite. Wird hier eine kommende große Koalition
       vorweggenommen? 
       
       Nein. Das ist eine punktuelle Zusammenarbeit. Meine Wunschkoalition bleibt
       Rot-Grün.
       
       FDP-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger lehnt Ihren
       Vorschlag strikt ab. Wollen Sie einen Keil zwischen sie und die Union
       treiben? 
       
       Nein. Mir geht es nur um die Sache. Die vielfachen Differenzen zwischen der
       Justizministerin und der Union sind ja bereits zur Genüge bekannt.
       
       12 Mar 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Rath
       
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