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       # taz.de -- Zapfenstreich für Christian Wulff: Tschingderassawulff
       
       > Der ehemalige Bundespräsident wird mit dem Großen Zapfenstreich
       > verabschiedet. Die taz präsentiert die Stücke und erklärt, was die
       > Auswahl über Wulff sagt.
       
   IMG Bild: Wulff will auch zackig: Großer Zapfenstreich für Gerhard Schröder, 2005.
       
       ## „Ode an die Freude“
       
       Malträtiert von einer Bürokratenvereinigung namens Europäische Union,
       missbraucht für unzählige Werbespots, zweckentfremdet zur Eröffnung von
       Olympischen Spielen, Gartenfesten und Friseursalons, ist das Finale von
       Beethovens 9. Sinfonie samt der Verse von Schiller zu einem Gassenhauer
       verkommen – ähnlich wie die [1][Soulklassiker] von Aretha Franklin, die man
       nicht mehr hören kann, ohne in Gedanken ein Bier zu bestellen oder im Auto
       sinnlos im Kreis zu fahren.
       
       Und doch gehört dieses Stück voller Zuversicht, Tatendrang und Sinnesfreude
       zum Besten, was die deutschsprachige Lyrik jemals hervorgebracht hat.
       Pathetisch gewiss, aber glaubwürdig und deshalb ergreifend. Es geht um
       Aufbruch, um Revolution, um ein rätselhaftes Elysium.
       
       Was aber hat das mit Wulff zu tun? Will er uns damit ein fröhlich-trotziges
       „Leckt mich am Arsch“ entgegenschleudern? Geht es ihm, wie seine letzten
       Fans aus dem Duisburger Moscheeverein vermuten könnten, um das Motiv der
       Verbrüderung? Oder, wie mäßig begabte Kabarettisten nun kalauern werden, um
       das Umschlingen der Millionen? Spielt „eines Freundes Freund“ auf Carsten
       Maschmeyer an?
       
       Nichts von alledem. Die Dinge sind, wie immer bei Wulff, entsetzlich
       banaler: Was Klassisches wäre gut, wird er gedacht haben. Was von
       Beethoven. Das Ba-ba-ba-baaaam. Oder doch lieber das andere, das mit der
       Freude. Das kennt jeder, da kann jeder mitsingen und mitschunkeln. Wie auch
       er gerne ein Präsident zum Mitschunkeln gewesen wäre. Ein Dutzendgesicht.
       Einer von uns halt.
       
       ## „Alexandermarsch“
       
       Das Niedersachsenlied („Wir sind die Niedersachsen / Sturmfest und
       erdverwachsen“) hat sich Wulff aus naheliegenden Gründen nicht getraut.
       Stattdessen wählt er diesen, von einem gewissen Andreas Leonhardt
       komponierten preußischen Militärmarsch aus dem 19. Jahrhundert, um zu
       demonstrieren: Ich kann auch zackig und kernig und männlich
       Tschingderassabumm! Ich kann auch scheppernd und donnernd und krachend! Ich
       kenne die [2][Traditionen] dieses Amtes und bin seiner würdig.
       
       Und ich hätte den Politikern noch den Marsch geblasen, wenn man mich nur
       gelassen hätte! Ich bitte, das im Protokoll zu vermerken!
       
       ## „Somewhere Over the Rainbow“
       
       Kitsch. In der [3][Coverversion] des hawaiianischen Sängers Israel
       Kamakawiwo’ole immerhin noch Edelkitsch, grauenhafter Kitsch hingegen im
       Original aus dem Film „Der Zauberer von Oz“ (1939), wo eine blond bezopfte
       Judy Garland auf Strohballen herumturnt und sich zu einer schmalzigen
       Melodie in ein Land wünscht, in dem der Himmel blau ist, die Vögel übern
       Regenbogen fliegen und Sorgen dahinschmelzen wie Zitronenbonbons.
       
       So hört es sich an, wenn Milchmädchen träumen, ehe sie sich vom erstbesten
       Schweinebauern hinter der Scheune schwängern lassen und ihre
       Kleinmädchenträume an ihre Töchter weiterreichen. Vielleicht will Wulff mit
       diesem Stück sagen, dass er lieber irgendwo anders wäre, wo das Wetter
       besser ist und die Menschen netter sind.
       
       In seinen letzten Tagen als Präsident mag er sich das gewünscht haben,
       jetzt aber ist dieser Wunsch hinfällig. Denn weg vom Fenster ist er
       sowieso. „Somewhere Over the Rainbow“ ist daher bei Wulff kein Sehnsuchts-,
       sondern eine Klagelied: Die böse Welt hat mich aus meinem süßen,
       unschuldigen Traum gerissen, wo der Himmel blau war und ich sein Präsident.
       Oder umgekehrt. Auf jeden Fall war es schön. Wieso kann ich nicht dorthin
       zurück? Schnüff!
       
       ## "Da berühren sich Himmel und Erde"
       
       Christoph Lehmanns Kirchenlied aus dem Jahr 1989 gehört, wie Kenner der
       Materie versichern, zu den besseren des Genres. Aber es bleibt, was es ist:
       ein Kirchenlied. Wulff aber läuft mit dieser Wahl noch einmal zu großer
       Form auf: Wo eine schlichte Dudelmelodie auf Kirchentagsromantik trifft,
       sich „schenken“ auf „bedenken“ reimt und „verbünden“ auf „überwinden“, da
       ist er wieder da, der nette Schwiegersohn, der kleine Christian aus
       Osnabrück, der ganz groß herauskommen wollte, aber nie jemandem wehtun.
       
       Und, so wird er sich gedacht haben: Das mit dem „neu beginnen“ ist pfiffig.
       Ich werde ja auch die alten Wege verlassen und etwas Neues beginnen. Hihi,
       wie doppelsinnig! Schade nur, dass es danach endgültig vorbei ist und sich
       niemand dafür interessieren wird, welche Lieder ich so mag, wem ich auf den
       Anrufbeanworter quatsche oder mit wem ich es sonst den lieben langen Tag
       treiben werde.
       
       Donnerstag, 19 Uhr, live in der ARD, Kommentatoren: Ulrich Deppendorf und
       Oberstleutnant Peter Altmannsperger.
       
       8 Mar 2012
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://www.youtube.com/watch?v=EyvJlD7SJYs
   DIR [2] /!87006/
   DIR [3] http://www.youtube.com/watch?v=Y-HUJgZwqKs
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Deniz Yücel
       
       ## TAGS
       
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