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       # taz.de -- Christian Petzolds Film "Barbara": Ein besonderes Experimentierfeld
       
       > Christian Petzolds neuer Film "Barbara" erinnert an die DDR. Und er
       > markiert die widerläufigen Aspekte des Menschlichen: die Sorge
       > füreinander und die Freiheit.
       
   IMG Bild: Fahrradfahren ist eine sehr kinematografische Angelegenheit; „Barbara“ ist ein Film auch über eingeschränkte Bewegungen.
       
       Ein Film, der „Barbara“ heißt, kann nur vom Fremdsein handeln. Oder von der
       Frau, die von den Vätern enthauptet wird, weil sie sich gegen sie
       entschieden hat. Jedenfalls ist dies die Passionsgeschichte, tief im Kern
       der Sache.
       
       Man vergisst es gelegentlich: Eine der Bedeutungen von Film beschreibt eine
       Schicht, die auf einem Material – oder einer anderen Schicht – liegt,
       Flüssiges, das fest wird, Festes, das sich verflüssigt. Bei Christian
       Petzold kann man sehen, wie Film bedeutet, hinter Schichten zu sehen, auf
       neue Schichten, und möglicherweise beginnt das alles mit einer Einstellung
       auf Nina Hoss’ Augen und die Fenster eines öffentlichen Verkehrsmittels.
       Und damit, dass sie, wo alle anderen, die aus dem Bus kommen, ein Ziel
       ansteuern, zögert.
       
       Da ist sie schon im Blick eines anderen, eines rauchenden Mannes, der sie
       beobachtet, wie sie sich auf eine Bank setzt. Dann beginnt das Drama
       zwischen zwei widerläufigen Aspekten des Menschlichen: der Sorge
       füreinander und der Freiheit. Und wie das immer weiter auseinandergeht in
       einer Gesellschaft von Misstrauen und Überwachung. Natürlich ist auch ein
       Defa-Film unter den Schichten verborgen, ein Defa-Film der letzten Phase,
       in der die Menschen in einer mählich entleerten Welt begannen, miteinander
       wie in einer Tragödie zu sprechen. Zu viel Raum, der nichts mit sich
       anfangen konnte. Und Worte, die wirkten, als wären sie einzeln abgewogen.
       
       Die Geschichte ist einfach, zunächst: Die Ärztin Barbara hatte einen
       Ausreiseantrag gestellt, und zur Strafe dafür wird sie in ein Krankenhaus
       in der mecklenburgischen Provinz versetzt, sie fühlt sich sogleich
       beobachtet, wird demütigenden Untersuchungen und Kontrollen unterzogen,
       kann niemandem trauen, auch der Freundlichkeit des jungen Kollegen Andre
       nicht. Derweil laufen die Vorbereitungen für die Flucht über die Ostsee.
       Westgeld ist das erste Zeichen, das sie unter einem Kreuz verbirgt.
       Barbara, das ist eine typische Petzold-Geste, ist schon halb nicht mehr da.
       Um so schwerer lastet die Gegenwart. Barbara lebt in einem Niemandsland. So
       allein und bei sich wie kein anderer.
       
       ## Weg aus dem „Scheißland“
       
       Alles, was sie hat an Menschlichkeit, wendet sie den Patienten in der
       Kinderchirurgie zu. Einem Mädchen, dass sich in den Auen versteckte, sechs
       Tage lang, und nun von der Polizei mit einem Zeckenbiss eingeliefert wird.
       Es geht auch um Schmerzen. Und um Stella, die natürlich auch nicht umsonst
       so heißt. Eine Simulantin, sagt Barbaras Chef, Andre, die nicht zur Arbeit
       im „Werkhof“ will. Das glaubt er aber selber nicht. Stella ist schwanger,
       und als sie das erfährt, verändert sich Barbaras Blick. Das Kind muss weg,
       sagt Stella. Will sie abtreiben? Nein, sie will mit dem Kind weg aus diesem
       „Scheißland“.
       
       Aber Andre verwirrt Barbara doch, er holt sie, durch seine Fähigkeiten,
       durch sein Vertrauen, dadurch, dass er die Sorgen um die Patienten mit ihr
       teilt, dadurch, dass er ihre Beziehung zur „Ausreißerin“ Stella schützt,
       langsam zurück. Stella und Barbara finden sich bei der Lektüre von
       „Huckleberry Finn“, eine andere Fluchtgeschichte und eine andere Schicht
       des Dramas.
       
       Den Mississippi hinunter ins Land der Freiheit (während die anderen sie für
       tot halten). „Barbara“ ist, auf dieser Zwischenschicht jedenfalls, ein
       Remake der Geschichte vom Tot-Sein und Doch-nicht-tot-Sein, von der
       Erkenntnis der Trauer der Hinterbliebenen. Dass man immer doppelt sterben
       muss, für sich, aber auch für die anderen.
       
       Der Flüchtling lebt für sich, indem er für die anderen stirbt, und er
       stirbt für sich, indem er für andere lebt. Er kann niemandem trauen. Dass
       Huck und Nigger Jim „Freunde“, vielleicht sogar so etwas wie Brüder sind,
       das liegt erst jenseits der Geschichte. Und Ähnliches liegt jenseits der
       Geschichte von Barbara und Andre. Es handelt sich übrigens, so genau ist
       der Film auch hier, um die Übersetzung des Eulenspiegel Verlags, die Hucks
       sprachlicher Selbstermächtigung vollkommen hilflos gegenüberstand und
       vielleicht gerade deswegen so von unterdrückter Sehnsucht spricht.
       
       Eine andere Schicht bildet Rembrandts Gemälde „Die Anatomie des Dr. Tulp“,
       dessen Reproduktion im Labor Andres im Keller des Krankenhauses hängt, in
       der wiederum die Abbildung einer „falsch“ sezierten Hand (eines Gehenkten)
       aus dem Atlas übertragen wurde. Eine Opfermetapher folgt auf die
       Fluchtmetapher, und auf dieser Schicht ist der Film ein Remake des
       Gemäldes, das von der Blindheit der starrenden Männer handelt. Und vom
       Schatten des Todes über dem Gesicht eines verurteilten Menschen.
       
       ## Aller Hoffnung wohnt der Verlust inne
       
       Die Erzählung, das Bild, und schließlich: die Musik. Barbara hat in ihrer
       neuen Wohnung ein Klavier, aber es ist verstimmt, und Andre schickt
       jemanden, es zu stimmen, was sie zunächst ablehnt. Und dann doch: Alles
       will auf das Nocturne von Chopin hinaus, mit seinen ziemlich gemeinen
       Sehnsuchtssprüngen, als Gegenpol zu CHICs „At Last I am Free“ über dem
       Abspann, wo es die Energie, aber keinen Atem mehr gibt. So ist das in
       diesem Film, und im Leben womöglich auch. Aller Hoffnung wohnt der Verlust
       inne, jeder Annäherung die Entfernung, jeder Bewegung der Stillstand, dem
       Heilenden das Verletzende. Die DDR der achtziger Jahre ist dafür nur ein
       besonderes Experimentierfeld. Die Frage nach der Freiheit ist seitdem ja
       nicht weiter beantwortet worden. Nur perfekter verdrängt.
       
       Dann gibt es eine zweite Erzählung, „Der Kreisarzt“ von Turgenjew, die
       Geschichte eines alten hässlichen Arztes, der zu einem sterbenden Mädchen
       gerufen wird und ihr als Stellvertreter für all die Liebhaber dient, die
       sie nicht mehr haben wird. Das stammt aus den „Aufzeichnungen eines
       Jägers“, die einen großen Protest gegen Leibeigenschaft und Unterdrückung
       beinhaltet, und nicht umsonst fällt am Ende der Blick des
       Menschenjäger-Offiziers auf dieses Buch, das Barbara von Andre geschenkt
       erhielt.
       
       Und auch das Essen, die nächste Schicht/Kommunikation. In Andres Küche
       werden Zucchini und Zwiebeln geschnitten. Eine Ratatouille entsteht,
       Gaumen-Flucht; Häutungen, Schichten. Küche und Garten von Andre sehen aus,
       als ließe sich’s hier leben. Und hier kommt es zu einem Kuss, mehr nicht.
       
       Natürlich hat der Film auch eine gewaltige Oberflächenspannung. Ist Andre
       ein Mentor, ein Komplize, ein Kontrolleur oder Denunziant? Ist Liebe
       zwischen den beiden im Spiel? Ist es wahr, dass er verantwortlich war
       dafür, dass zwei Frühgeburten das Augenlicht verloren? Schließlich müssen
       sich doch ärztliche Pflicht/Passion und Fluchtplan in den Weg kommen,
       schließlich zeigt der Überwacher seine menschliche Seite, seine Frau stirbt
       an Krebs. Außerdem muss ein Junge operiert werden, der sich wegen einer
       pubertären Eifersuchtsgeschichte das Leben nehmen wollte, weil seine
       Gefühle weg sind. Stella, übel dran, liegt vor ihrer Tür, und verlangt:
       „Geh nicht weg.“
       
       Ach, wie anders könnte man all das auch erzählen. Aber Petzold erzählt es
       ja gar nicht, er lässt es sich entwickeln zwischen den Filmen. „Barbara“
       folgt nicht nur einer Geschichte, er durchmisst soziale Räume, nein
       Menschen-Räume, man folgt den Figuren gleichsam ins Off oder könnte in
       Gedanken an die Orte gelangen, die sie gerade verlassen haben.
       
       Auch dorthin, wo sich das neue Grauen, das von der anderen Seite, schon in
       das alte schiebt: Im Wald unweit der Straße finden sich Barbara und Jörg,
       der Geliebte aus dem Westen, zur Liebe; zurück bleiben Geschenke, Parfüm
       und Strümpfe, in einer Plastik-Tüte mit dem Aufdruck der
       Puppen-in-der-Puppe. Und das Westgeld für die Flucht über die Ostsee. Und
       im Interhotel verspricht er, sie müsse nicht mehr arbeiten, nach dem
       Grenzübertritt, denn er verdiene genug für sie beide.
       
       ## Koloristischer Einspruch
       
       Die eingeschränkte Wahrnehmung ist kein „natürlicher“ Zustand dieser
       Gesellschaft, sie wird erzeugt. In diesem Film kann man studieren, unter
       anderem, welchen Unterschied es macht, ob die Wahrnehmung horizontal,
       vertikal oder in die Tiefe hinein eingeschränkt wird. So sind die Bilder
       erneut „streng komponiert“. Und erneut stellt sich die Frage, ob Barbara
       das Gespenst ist oder der Mensch, der von Gespenstern heimgesucht wird.
       Jedenfalls benimmt sich niemand „natürlich“ (die größte und billigste
       Illusion des Kinos).
       
       Fahrradfahren ist eine sehr kinematografische Angelegenheit; „Barbara“ ist
       ein Film auch über eingeschränkte Bewegungen, der Bus, die Bahn, das
       Fahrrad, das, nun ja, eingeschränkte Automobil, die Fußmärsche. Bei
       Christian Petzold passt sich die Kamera in ihren Bewegungen nicht
       „geschmeidig“ den Bewegungen der Protagonisten an, so zeigt sich eine
       Autonomie des Bildes/Blicks. Die Bewegungen der Menschen erhalten auf diese
       Weise ihre Bedeutung und Würde zurück. Wie Barbara wieder zu sehen beginnt,
       davon handelt einer der Filme. Und das ist auch das Angebot an den
       Zuschauer. Am Ende bewegt sie sich als freier Mensch.
       
       Natürlich beginnt das alles mit einem koloristischen Einspruch gegen das
       Klischee einer grauen, düsteren DDR, gegen das Phantasma des Ermatteten und
       Erkalteten; nur so konnte man sie sich zugleich einverleiben und von sich
       weisen, in finstere Vergangenheit. Aber hier, in „Barbara“, blühen
       Sonnenblumen, hier spiegelt sich der See, hier fährt der Wind in die Bäume,
       und hier sind die Tische mit großkarierten, weiß-roten Decken gedeckt. Weiß
       und rot, wie es sich in einem Rosensträuschen am Eingang wiederholt. Die
       DDR konnte sehr warm sein.
       
       Eigentlich ein sehr klassischer Konflikt, Liebe, Verantwortung, Loyalität,
       Freiheit, Hoffnung, all das Zeug. Nur dass er für Barbara nicht zu lösen
       ist, weder durch Gewalt noch durch Bewegung. So beginnen die Räume zu
       leben. So deuten die Dinge nicht auf „DDR“, sondern auf „Mensch“.
       
       Es ist die Nacht der Flucht, und Barbara nimmt Stella mit auf dem Fahrrad.
       Das Meer kommt näher, während Andre die Operation des Jungen vorbereitet.
       Jetzt endlich die lange erwartete, lange verweigerte Einstellung auf das
       Meer, das im Übrigen so schön ist, wie es eben ist.
       
       7 Mar 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Georg Seesslen
       
       ## TAGS
       
   DIR Holocaust
       
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