URI: 
       # taz.de -- Warum man Wulff jetzt in Ruhe lassen kann: Erst steinigen, dann Streckbank
       
       > Die deutsche Presse hat noch immer nicht genug vom lustigen Zurücktreten
       > eines Provinzpolitikers. Nun muss sie auf die Journalisten-Bahncard
       > verzichten.
       
   IMG Bild: Genug gewulfft: Die Deutsche bahn nutzt das bigott aufgeladene Klima, um ihren ungeliebten Journalistenrabatt abzuschaffen.
       
       Für alle, die es noch nicht mitbekommen haben: Christian Wulff ist
       zurückgetreten vom Amt des Bundespräsidenten. Die Diskussionen über einen
       Zapfenstreich, über seine Rente und darüber, dass seine Schwiegermutter ihm
       das Geld für den Urlaub irgendwo in der deutschen Provinz in bar geschenkt
       hat oder nicht, betreffen einen Ehemaligen. Vorgebliches Ziel dieser
       Kampagnen sind natürlich „Ehre“ und „Würde“, „Sorge“ um das Ansehen des
       Amtes des Bundespräsidenten.
       
       Nachdem es der deutschen Weltpresse nicht gelungen war, Wulff gleich im
       ersten Anlauf zurückzutreten, klappte es dann immerhin im zweiten Anlauf.
       Aber um das zu schaffen, musste man jedem Einwohner von Großburgwedel einen
       Journalisten zur Seite stellen. Die böse Generalin Journaille schickte ihre
       Truppen in Kompaniestärke nach Niedersachsen, irgendeine Beute musste
       gemacht werden. Mit geschenkten Kulis und Werbetaschen vom letzten Event
       fahren sie mit Journalistenrabatt ins Feld und machen sich auf die Suche
       nach Anlässen, empört zu sein.
       
       So werden in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren noch weitere
       Enthüllungen zu befürchten sein: Wulff bekam mal einen Zahnstocher
       „geborgt“ von einem, dessen Bruder jemanden kennt, der in Brasilien
       Regenwälder abholzt. Bei den Angeboten für die Regenrinne seines Hauses hat
       er sich gnadenlos für den billigsten Anbieter entschieden, obwohl der
       unverzinkte Schrauben verbauen wollte, und hallo!, da muss doch wohl
       irgendwas faul sein an der Sache. Und so einer will jetzt einen
       „Zapfenstreich“ und einen „Ehrensold“ und womöglich noch irgendwas mit
       einem hundert Jahre alten Namen. Das kann doch nicht wahr sein! Das müssen
       wir doch verhindern!
       
       Wenn uns etwas nichts angeht, dann lässt uns das kalt. Fasziniert
       beobachten wir das Paarungsverhalten von Nasenfröschen, ungewöhnlich, aber
       es hat nichts mit uns zu tun. Wir wundern uns über den Musikgeschmack von
       jungen und alten Leuten, irgendwie schrill, aber nichts, das uns aufregt.
       
       ## Hände bis zum Ellenbogen in die Keksdose
       
       Aber wenn eine Angelegenheit mit so viel Energie und so viel Emotion
       betrieben und verfolgt wird, dann liegt es doch nahe, dass hier eigene
       Gefühle berührt wurden. Schnäppchen sind in Deutschland so beliebt, dass
       man sie mitnimmt, ganz egal, wie viel sie kosten. Die Werbesprüche der
       Elektronikmärkte „Geiz ist geil“ und „Ich bin doch nicht blöd“ bringen das
       Gefühl auf den Punkt, das bei den besser Situierten mit „1000 ganz legalen
       Steuertricks“ beschrieben wird. Es ist toll, kleine Schweinereien zu
       begehen, Vorteile mitzunehmen, irgendwas günstig zu holen. Im ersten Satz
       wird der Markenname des neuen Mantels erwähnt, im zweiten, wie billig der
       war.
       
       Wir alle haben unsere Hände bis zum Ellenbogen in die Keksdose geschoben
       und lassen sie dort mit einem verschämten Blick auf die Tür herumwandern.
       Hauptsache, die Mama kommt nicht gleich in die Küche herein, dann wird es
       peinlich. Aber solange es geht, ist alles erlaubt, was die Idioten
       vergessen haben, uns zu verbieten. Es gibt wohl kaum jemanden, der einen
       vergleichbaren Journalistensturm wie Wulff mit guter Figur überleben
       könnte. Unglaublich geschickt macht es die Bahn, dieses bigott aufgeladene
       Klima dafür zu nutzen, ihren ungeliebten Journalistenrabatt abzuschaffen.
       
       Der Provinzpolitiker Wulff hat ein Amt in die Hand gelegt bekommen, an dem
       er sich vorhersehbar verhoben hat. Im Gegensatz zu vielen, die nun über ihn
       berichten, muss er nun für seine Verfehlungen büßen. Aber warum muss ein
       gesteinigter Mann noch auf die Streckbank gelegt werden?
       
       5 Mar 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jakob Hein
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Zapfenstreich für Christian Wulff: Tschingderassawulff
       
       Der ehemalige Bundespräsident wird mit dem Großen Zapfenstreich
       verabschiedet. Die taz präsentiert die Stücke und erklärt, was die Auswahl
       über Wulff sagt.
       
   DIR Kleine Wortkunde: Zapfenstreich: Ab ins Bett, Wulff!
       
       Jetzt wird Christian Wulff der Zapfen gestrichen – ist das sprachlich
       korrekt: jemandem den Zapfen streichen? Und: Hat Wulff nach der Zeremonie
       den Zapfen gestrichen voll?
       
   DIR Wulffs Musikwunsch beim Zapfenstreich: Zauberer von Großburgwedel
       
       Christian Wulff wünscht sich vom Musikkorps der Bundeswehr zum Abschied das
       Lied „Somewhere over the Rainbow“. Der Text des Liedes ist aufschlussreich.
       
   DIR Kommentar Zapfenstreich Wulff: Eben kleinlaut, jetzt in großer Pose
       
       Gerade bei denen, die jetzt von einem „unehrenhaften“ Verhalten Wulffs
       sprechen und sich moralisch aufplustern, scheint der doppelte Boden ihrer
       Argumente deutlich durch.
       
   DIR Ehrensold für Christian Wulff: Ein wenig warten auf die Ehre
       
       Selbst CDU-Abgeordnete sind über den Ehrensold für Christian Wulff
       beunruhigt. Auch Oppositionspolitiker fordern, dass Wulff erst alle
       Vorwürfe klärt, bevor er seinen Sold bezieht.
       
   DIR Keine Billig-Bahncard mehr für Journalisten: Schluss mit dem Rabatt
       
       Bei der Bahn darf niemand mehr „wulffen“. Zum 15. April streicht sie
       Preisnachlässe für Journalisten. Woanders gibt es weiterhin Rabatte. Aber
       warum?
       
   DIR Ermittlungen der Staatsanwaltschaft: Nun auch noch Wulffs Ex-Frau
       
       Verdächtigungen wohin man blickt: Christiane Wulff, Ex-Frau von Christian
       Wulff, wurde nach der Scheidung bei einer Rechtsanwaltskanzlei angestellt.
       Aber war sie dort je tätig?
       
   DIR Debatte um Ehrensold: Wulff soll nicht, Köhler macht's nicht
       
       Während Christian Wulff nach Meinung vieler auf den Ehrensold verzichten
       soll, tut dies offenbar Ex-Bundespräsident Köhler. Die Ermittlungen gegen
       Wulff gehen unterdessen weiter.