URI: 
       # taz.de -- Ausstellung zum Cinema of Transgression: Sex, Blasphemie und offene Wunden
       
       > Im Berliner KW Institute for Contemporary Art läuft eine Retrospektive
       > blutrünstiger Undergroundfilme aus dem New York der achtziger Jahre.
       
   IMG Bild: Billiger Splattereffekt in "Straydogs".
       
       In Richard Kerns "Stray Dogs", einem zehnminütigen Super-8-Film aus dem
       Jahr 1985, masturbiert ein junger, irrsinnig wirkender Mann in einem
       Atelier, während der Maler ungerührt an einem Bild arbeitet. Nach ein, zwei
       Minuten platzt dem Irren buchstäblich der Kragen. Sein Hals reißt auf, Blut
       schießt hervor, die Wunde sieht so unecht aus, wie Wunden in billigen
       Filmen aussehen.
       
       Was Haut und Fleisch darstellen soll, ist erkennbar aus Kunststofflappen
       zusammengekleistert. In einem anderen Super-8-Film, "Nymphomania" (1993)
       von Tessa Hughes-Freeland und Holly Adams, stellt ein Faun einer Nymphe
       nach. Selbstvergessen übt sie sich auf einer Wiese im Ausdruckstanz, er
       bekommt eine Erektion, die leicht als Dildo zu erkennen ist, weil er sie
       etwa 25 Zentimeter vor seinem Unterleib hält.
       
       Kurz nachdem er sich auf die Nymphe geworfen hat, stößt dieser
       Dildo-Schwanz von innen durch ihre Bauchdecke hindurch, ein blutiges Loch
       klafft auf. Wem das noch nicht genug Sex und Blut ist, kann in "Thrust in
       Me" von Richard Kern und Nick Zedd, 1985 auf Super 8 gedreht, verfolgen,
       wie sich eine junge Frau in der Badewanne die Pulsadern aufschneidet; ein
       junger Mann kommt in die Wohnung, geht ins Bad, scheißt, findet kein
       Klopapier, wischt sich den Hintern ab mit einem Jesusbildchen, das an der
       Wand hängt, und bemerkt erst dann die leblose Frau. Sofort bekommt er eine
       Erektion und befriedigt sich im Mund der Toten.
       
       ## Von Lydia Lunch bis Nick Zedd
       
       Sex, Blut, offene Wunden, entstellte Körper, sinnlose Gewalt, Blasphemie
       und Leichenschändung: Damit sind wesentliche Elemente des "Cinema of
       Transgression" benannt. In den achtziger Jahren schließen sich im New
       Yorker East Village Künstler und Künstlerinnen zusammen, unter ihnen Lydia
       Lunch, Richard Kern, Karen Finley, Tessa Hughes-Freeland und Nick Zedd
       (Zedd prägt 1985 in einem Manifest den Begriff "Cinema of Transgression",
       Kino der Überschreitung).
       
       Sie drehen billige Super-8- und 16 mm-Filme und lassen sich dabei von den
       schmierigen Seiten der Popkultur inspirieren, von den Pornos, die in den
       Kinos an der 42. Straße allgegenwärtig sind, von Exploitation-Filmen, die
       in den benachbarten Grindhouse-Klitschen laufen.
       
       Musik spielt eine große Rolle, No Wave, Postpunk und Noiserock. The Swans,
       J. G. Thirlwell oder Lydia Lunch steuern düster-verhangene Soundtracks bei.
       Im Mittelpunkt steht ein radikales Aufbegehren: gegen den guten Geschmack
       und den saturierten Kunstbetrieb, gegen ein Avantgardekino, das es sich im
       Strukturalismus bequem gemacht hat.
       
       ## Wenig Rücksicht auf die Widersprüche der Präsentation
       
       Mit der Schau "You Killed Me First" bietet das Berliner KW Institute for
       Contemporay Art zurzeit die Möglichkeit, aus der Distanz von 30 Jahren auf
       das "Cinema of Transgression" zurückzublicken. Dabei nimmt die Kuratorin
       Susanne Pfeffer auf die Widersprüchlichkeiten, die die Präsentation von
       Film im Museum mit sich bringt, wenig Rücksicht.
       
       Dankenswerterweise läuft im Erdgeschoss und im obersten Stockwerk jeweils
       nur ein Film, sonst aber konkurrieren mehrere Screens in einem Raum um die
       Aufmerksamkeit der Betrachter. Tonspuren vermischen sich zu einem
       unterschiedslosen, grollenden Wabern. Das Super-8- und 16 mm-Material wurde
       auf DVD konvertiert, alle Filme werden gebeamt.
       
       Vielleicht ist der Wunsch nach Projektionsformen, die die ursprüngliche
       Materialfassung respektieren, hier fehl am Platz, auch den Filmemachern
       dürfte ein solcher cinephiler Purismus gleichgültig gewesen sein. Dennoch
       vermisst man das Rattern der kleinen Projektoren und die Materialität der
       analogen Technik gerade in diesem auf Materialvernichtung so versessenen
       Bildersturm.
       
       ## Das Abjekte ist überall
       
       Merkwürdig auch, dass das Aufbegehren dieser Filme einen heute recht
       kaltlässt. All der explizite Sex, die Erektionen, die Kotze und die
       Heroinspritzen, die Wunden und das Blut berühren kaum jenes Phänomen, das
       die Theoretikerin Julia Kristeva einmal das "Abjekte" genannt hat.
       
       Sie lösen keine fundamentale, unmittelbar körperliche Verunsicherung aus,
       keinen Ekel, keinen Horror, keine Empörung. Vielleicht liegt es daran, dass
       das Transgressive heute so allgegenwärtig ist - seis bei Lady Gaga, in
       Quentin Tarantinos Verbeugungen vor dem Exploitation-Kino oder in der
       Salonfähigkeit pornografischer Bilder.
       
       Man glaubt gern, dass diese Filme in den von Reagan regierten USA Anstoß
       erregten, aber dies heute nachzuvollziehen verlangt so viel Fantasie wie
       die Vorstellung, dass die gentrifizierten Straßen der Lower East Side vor
       30 Jahren eine innerstädtische No-go-Area waren, voller vermüllter Brachen,
       Abbruchhäuser und Drogendealer.
       
       ## Pubertärer Verweigerungsakt
       
       Vielleicht liegt es aber auch daran, dass viele Filme sich in einem
       pubertären Verweigerungsakt erschöpfen. Die Transgression ist mit sich
       selbst zufrieden. Anschaulich wird dies zum Beispiel in "You Killed Me
       First", dem titelgebenden Zwölfminüter von Richard Kern. Er verfolgt ein
       aus dem Ruder laufendes Thanksgiving-Essen, bei dem die heranwachsende
       Tochter schließlich die Pistole in die Hand nimmt.
       
       Jonas Mekas, der große alte Mann des US-Experimentalfilms, merkte schon
       1995 in einem Text über Kerns Kollegen Nick Zedd in einer Mischung aus
       Wohlwollen und Skepsis an: "All seine Filme zeichnet eine ungeheure
       Energie, eine ungezügelte und ungehemmte Fantasie aus, bereit zum Flug der
       Freiheit. Im Moment scheint er seine Arbeit als eine Art Kampfansage an die
       Gesellschaft zu betrachten. Das finde ich beschränkt und überflüssig. Die
       Gesellschaft soll in Ruhe ihren traurigen Tod sterben, warum damit Zeit
       verschwenden!"
       
       ## Mehr als nur Zerstörungslust
       
       Manchmal ragt dann doch etwas hervor, was über eine in die Jahre gekommene
       Provokation hinausgeht. In Richard Kerns "The Sewing Circle" (1992) etwa
       lässt sich eine Frau ihre Vagina zunähen, man sieht das zum Teil in nahen
       Einstellungen, und man merkt, dass die Frau bei dieser Aktion neben den
       Schmerzen auch Spaß hat. Die Naht taucht in "A Fire in My Belly" von David
       Wojnarowicz wieder auf. Ein Brotlaib wird mit rotem Faden vernäht, nach dem
       Schnitt heftet ein anderer roter Faden die Lippen eines Mannes zusammen.
       
       Wojnarowicz, 1992 an den Folgen von Aids gestorben, vernäht in diesem
       Super-8-Film eine Menge disparater Bilder miteinander, ein Kruzifix liegt
       am Boden, Ameisen laufen darüber, ein Bettler ohne Beine versucht sich an
       einer Straßenkreuzung zu behaupten, eine Kakerlake liegt auf dem Rücken,
       ein Mann zieht sich aus, Rinderhälften werden in den Striptease
       hineingeschnitten. Eine ungezügelte Montage voller widerständiger Reste,
       die sich in bloßer Zerstörungslust gerade nicht erschöpfen.
       
       22 Feb 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Cristina Nord
   DIR Cristina Nord
       
       ## TAGS
       
   DIR Free Jazz
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR US-Saxofonist James Chance gestorben: Zigarettenstummel des Jazz
       
       Begnadeter Tänzer, wütender Sänger, hupender Saxofonist: Der New Yorker
       No-Wave-Musiker James Chance ist gestorben. Ein Nachruf.
       
   DIR Musikcover-Designer Anthony Frost: Hooligans und Ikonoklasten
       
       Kontrastreich in Blau und Rot sind Anthony Frosts Gemälde. Kunst, die mit
       der Kultband The Fall zu tun hat, zeigt eine Ausstellung in London.
       
   DIR Postpunk-Spezialist Reynolds: "Punk war bloß der Urknall"
       
       30 Jahre Punk? Gähn. Der britische Musikjournalist Simon Reynolds hat ein
       grandioses Buch über die bessere Musik geschrieben: Postpunk. Und über
       Do-it-yourself und feministische Höhenflüge.