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       # taz.de -- Die Ossis übernehmen die Macht: Drüben geht die Sonne auf
       
       > Die Kanzlerin ist es, der künftige Präsident auch: Ossi. Sollen wir uns
       > darüber jetzt freuen oder was? Man ahnt: Die Ostler werden wieder was zu
       > meckern haben.
       
   IMG Bild: Die Ostler übernehmen komplett den Laden: Kanzlerin Angela Merkel und der zukünftige Bundespräsident Joachim Gauck.
       
       Es ist so weit. Wenn am 18. März Joachim Gauck zum Bundespräsidenten
       gewählt wird, bekleiden gleich zwei Ostler die beiden höchsten Ämter, die
       die Bundesrepublik zu vergeben hat. Angela Merkel und Joachim Gauck, die
       Physikerin und der Pfarrer, werden fortan Seite an Seite die Geschicke der
       Regierung und des Staates führen. Bedarf es eines augenfälligeren Beweises
       dafür, dass die deutsche Einheit vollendet ist - wenn jetzt die Ostler den
       Laden komplett übernehmen?
       
       Tatsächlich ist es aber so, dass Joachim Gauck kein Konsenskandidat ist. Im
       Gegenteil, so wie es eben nicht den Ostler, die Ostlerin gibt, so
       repräsentiert der Mann aus Rostock auch beileibe nicht alle seine Brüder
       und Schwestern. Dafür ist dieser seltsame Haufen immer noch zu gespalten.
       Nicht jeder Ostdeutsche hat nun mal so eine vorzeigbare Biografie wie
       Pfarrer Gauck aus Rostock.
       
       Viele waren einfach nur Mitläufer auf der Suche nach dem privaten Punk.
       Einige waren linientreue Idealisten, die das bessere Nachkriegsdeutschland
       aufzubauen versuchten. Wieder andere waren froh, wenn man sie in Ruhe ließ
       und die Versorgungsengpässe nicht allzu drückend wurden. Und dann gibt es
       noch die ehemaligen Bürgerrechtler, für Ironie und Leichtigkeit nicht eben
       bekannt.
       
       ## In den Wolfslandschaften kurz vor Polen
       
       Im Westen will man das lieber nicht zur Kenntnis nehmen. Da sind die
       meisten nach mehr als zwanzig Jahren Wiedervereinigungsgedöns froh, dass
       mit Joachim Gauck eine Art Superossi den Bundespräsi gibt. Als grau
       gelockter Politstar vermittelt er ihnen das gute Gefühl, dass da drüben in
       den Wolfslandschaften kurz vor Polen wenigstens einer zu demokratischen
       Gepflogenheiten gefunden hat. Natürlich: ein Mann der Kirche. Die anderen -
       die gottlosen Hartz-IV-Bezieher, die Nazis und Kostgänger der ächzenden
       Sozialsysteme - kann man darob endlich mal verdrängen.
       
       Erst letzte Woche hat Joachim Gauck in Karlsruhe dargelegt, woran es den
       anderen Ostlern mangelt. 22 Jahre nach der Vereinigung, so der 72-Jährige,
       gebe es "eine stärkere Trennung zwischen Ossi und Ossi als zwischen Ossi
       und Wessi". Das liege an der Mentalität der Maiks und Cordulas, deren
       Grundlage eine "Prägung über Jahrzehnte ohne eigene Rechte, ohne das
       Training von Selbstverantwortung" sei. Nach wie vor sei vieles, "was mit
       Freiwilligkeit, Selbstverantwortung und Eigenständigkeit zu tun hat, im
       Osten defizitär".
       
       Man liest es und ahnt: Die Ostler werden wieder was zu meckern haben an
       ihrem Landsmann als Staatsmann. Und keiner im Westen wird kapieren, was die
       eigentlich wollen - jetzt, wo einer von ihnen ran darf.
       
       ## Die arme Verwandschaft
       
       Das Grummeln über Gauck wird den mühsam geflickten Ruf des Ostlers aufs
       Neue versauen. Gerade in den letzten Monaten waren die Verbrechen der
       Zwickauer Terrorzelle Beleg für die These, denen da drüben könnte man
       zwanzig Jahre die Subventionen hinterherwerfen, Sozialarbeiter schicken und
       die Bürgersteige vergolden - aber für ein bisschen Demokratieverständnis
       und Toleranz reiche es bei ihnen einfach nicht. In diesem geschlossenen
       Weltbild ist der Ostler eine Art arme Verwandtschaft, deren ideologische
       Reife nahtlos vom FDJ-Lehrjahr in die NPD-Kaderschule führt.
       
       Mundlos, Zschäpe, Böhnhardt sind nur der sichtbare Ausdruck der
       Menschenverachtung in einem Landstrich, dessen Naturschönheiten man zwar
       gern preist - wären da nicht die Menschen, die ihn bewohnen. Nämlich jene
       zähen Ostler, die bleiben. Und die nicht dankbar sind. Für die
       Solimilliarden und die EU-Millionen. Die stattdessen bei der nächsten
       Gelegenheit gar nicht oder die Rechten wählen.
       
       Bei der Präsentation Joachim Gaucks als Kandidat für das Amt des
       Bundespräsidenten sagte Angela Merkel: "Wir beide haben einen Teil unseres
       Lebens in der DDR gelebt, und unsere Sehnsucht nach Freiheit hat sich
       1989/90 erfüllt." Gauck dankte ihr mit den Worten, ihm sei "am wichtigsten,
       dass die Menschen in diesem Land wieder lernen, dass sie in einem guten
       Land leben, das sie lieben können". Er kann es doch schließlich auch.
       
       21 Feb 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anja Maier
       
       ## TAGS
       
   DIR Joachim Gauck
       
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