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       # taz.de -- Kommentar Gauck wird Bundespräsident: Gemeinsamkeit geht vor
       
       > Jetzt doch Gauck. Mit ihrem Rückzug zielt Merkel auf die Opposition,
       > nicht auf die FDP. Ein im Herzen wohl konservativer Präsident ist ein
       > Signal für eine große Koalition.
       
   IMG Bild: Joachim Gauck und Angela Merkel – Liebe auf den zweiten Blick, die aus Sicht der Kanzlerin wohl auch taktische Gründe hat.
       
       Die Kanzlerin musste bei der Nominierung von Joachim Gauck etwas tun, was
       sie kaum mehr gewohnt ist: Angela Merkel gab dem Drängen der FDP nach. Und
       erklärte sich bereit, den ehemaligen DDR-Bürgerrechtler zum Präsidenten zu
       machen.
       
       Auf den ersten Blick ist das eine Niederlage für die Kanzlerin. Schließlich
       war es Merkel höchstpersönlich, die ihre Koalition 2010 dazu brachte, für
       ihren parteiinternen Kandidaten Christian Wulff und gegen Gauck zu stimmen.
       
       Doch ganz so einfach ist es nicht. Es ist nämlich keineswegs so, dass da
       plötzlich eine Zwei-Prozent-Partei die Machtverhältnisse umgekehrt hätte.
       Oder gar die Geschicke der Republik bestimmen würde. Nein, Merkel hat die
       Situation analysiert und gesehen, dass ihr die überraschende Kehrtwende
       mehr nutzt als alle anderen denkbaren Lösungen.
       
       Da wären zunächst die Mehrheitsverhältnisse: Gauck war der Kandidat, mit
       dem sich die größte Schnittmenge mit der Opposition herstellen ließ. Merkel
       vermeidet mit ihrem Rückzug einerseits die Koalitionskrise, orientiert sich
       aber gleichzeitig an dem Wahlspruch, den sie selbst ausgegeben hat:
       Gemeinsamkeit geht vor. Sie zielt auf die Opposition, nicht auf die
       Freidemokraten.
       
       Außerdem wird sich die FDP an etwas Wichtiges erinnern, wenn der Stolz über
       den vermeintlichen Sieg abgeklungen ist. Ein Präsident Gauck ist ein Signal
       für eine große Koalition. So wie Merkel SPD und Grüne bereits mehrfach im
       Parlament einband, sei es bei Europafragen oder bei der Energiewende, so
       tut sie es nach einigem Zögern auch bei der Präsidentenwahl. Sie selbst
       könnte von dieser wohl dosierten Nähe 2013 profitieren.
       
       Die FDP wird es mit Sicherheit nicht tun. Und zuletzt: Auch Grüne und SPD
       werden mit ihrem Wunschpräsidenten vielleicht nicht ganz so glücklich, wie
       sie es im Moment noch vorgeben zu sein. Der kommende Bundespräsident
       beschreibt sein Wirken mit der Klammer "Freiheit in Verantwortung". Nun ist
       ein Mangel an Freiheit nicht gerade das dringlichste Problem in unserer
       Gesellschaft. Wenn man das Treiben der Finanzmärkte und Banken betrachtet,
       würde man sich etwas weniger Freiheit sogar wünschen.
       
       Hier neigt der brilliante Redner, der Gauck ist, manchmal zu
       Einschätzungen, die ihn bei der FDP so beliebt machen. Die Occupy-Bewegung
       nannte Gauck kürzlich "unsäglich albern". Das ist eine erstaunliche
       Abqualifizierung hunderttausender Menschen, die ihr Unbehagen an den
       entfesselten Finanzmärkten in Protesten ausdrückten. Ebenso dozierte Gauck
       gerne über die Verantwortung, die auch Hartz IV-Empfänger für ihr Leben zu
       übernehmen hätten. Die alleinerziehende Mutter in Duisburg-Marxloh oder
       anderswo, die sich vergeblich um einen Job bemüht, wird ihm solche
       Belehrungen danken.
       
       Der designierte Präsident sagte bei seiner Nominierung einen
       bemerkenswerten Satz. Seine Hauptaufgabe werde die Nähe zu Menschen sein,
       "die Ja sagen zur Verantwortung". Es bleibt zu hoffen, dass er diejenigen
       nicht vergisst, denen im Alltagskampf die Luft für ein fröhliches Ja fehlt.
       
       Und SPD wie Grüne müssen wissen: Während sie selbst in den vergangenen
       Jahren programmatisch nach links gerückt sind, bekommen sie nun einen im
       Herzen wohl konservativen Präsidenten. Eine wird sich daran gewiss nicht
       stören: Kanzlerin Angela Merkel.
       
       20 Feb 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrich Schulte
       
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