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       # taz.de -- Nachlese der Bundespräsidenten-Affäre: Die Würde des Amtes ist unfassbar
       
       > Nach Wochen der Berichterstattung über Wulff herrscht Katerstimmung: Die
       > "Bild" räsoniert über Anstand, die bürgerliche Presse restauriert das
       > Amt.
       
   IMG Bild: Was passierte in jenen Sekunden? Gewiss ist nur: Wenn die Herren der "Bild" über Anstand sprechen, ist das, als würde man Marco Materazzi zum Botschafter des Fair Play ernennen.
       
       1. Die Talkwoche der ARD hat ihre Bestimmung gefunden 
       
       Lindners Rücktritt, Wulffs Kredit – Was ist los mit unseren Politikern?
       (Anne Will, 14. 12. 2011); Berliner Republik in Aufruhr - Bundespräsident
       Wulff in Misskredit (Beckmann, 15. 12. 2011); Die 500.000-Euro-Frage - Ist
       Christian Wulff noch der richtige Bundespräsident (Günther Jauch, 18. 12.
       2011); Der Problem-Präsident – wie glaubwürdig ist Christian Wulff?
       (Günther Jauch, 8. 1. 2012); Der Pattex-Präsident – was lehrt der Fall
       Wulff? (Hart aber fair, 9. 1. 2012); Macht, Medien, Moral – wo sind
       Deutschlands Vorbilder? (Beckmann, 12. 1. 2012); Unser Bundespräsident: Ein
       Wulff im Schafspelz? (Maischberger, 17. 1. 2012); In aller Freundschaft –
       Wie viel "Wulffen" ist in Ordnung? (Günther Jauch, 22. 1. 2012); Der erste
       Diener des Staates – fehlen uns heute die preußischen Tugenden des Alten
       Fritz? (Anne Will, 25. 1. 2012); Die Schnorrer-Republik: "Sind wir alle ein
       bisschen Wulff?" (Maischberger, 31. 1. 2012), Wulff und die Amigos – wenn
       Politik auf Wirtschaft trifft …! (Günther Jauch, 12. 2. 2012); Christian
       Wulff – eine Zumutung? (Hart aber fair, 13. 2. 2012); "Wulff Rücktritt -
       Günther Jauch diskutiert Hintergründe und Folgen" (Günther Jauch, 17. 2.
       2012).
       
       2. Wäre Bild ein Fußballspieler, sie hieße Marco Materazzi. 
       
       Noch immer ist nicht bekannt, was in den letzten Sekunden vor jenem
       entscheidenden Moment geschehen war, 2006, Finale von Berlin, 109. Minute.
       Marco Materazzi, Innenverteidiger der italienischen Nationalmannschaft, und
       Zinedine Zidane, Frankreich, offensives Mittelfeld, trotten aus dem
       Strafraum der Italiener. Zidane einige Schritte vor Materazzi. Zidane dreht
       sich um, blickt Materazzi ins Gesicht. Ein Wortwechsel.
       
       Zidane geht auf Materazzi zu. Dann rammt Zidane seinen Kopf in die Brust
       seines Gegenspielers. Materazzi geht zu Boden. Rote Karte Zidane.
       Frankreich verliert das Finale der Weltmeisterschaft, Italiens Spieler
       halten den Pokal in den Himmel über Berlin, unverdientermaßen.
       
       Zinedine Zidane beendet seine Karriere. Die Zuschauer sahen nur den
       Kopfstoß, es sind diese Bilder, die in Erinnerung bleiben: ein
       unbeherrschter, ein aggressiver Zidane. Was hat ihn so provoziert? Was
       hatte Materazzi gesagt in den Sekunden vor dem Ausbruch?
       
       Noch immer ist nicht bekannt, was in den Tagen vor jenem Anruf geschehen
       war, im Winter vergangenen Jahres. Am 12. Dezember 2011 ruft Christian
       Wulff, Präsident der Bundesrepublik Deutschland, bei Kai Diekmann an, dem
       Chefredakteur der Bild. Er erreicht nur seine Mailbox. Wulff hinterlässt
       eine Nachricht, spricht von Krieg und dem endgültigen Bruch mit dem
       Springer Verlag.
       
       Es ist jener Anruf, der in Erinnerung bleibt. Die seltsame Unbeherrschtheit
       eines Bundespräsidenten. Die Bild winselt, getroffen von Wulffs vorgeblich
       schwerem Angriff auf die Pressefreiheit. Zwei Monate später tritt Wulff
       zurück. Nikolaus Blome, Chef des Hauptstadtbüros der Bild, sitzt in
       Talkshows und spricht über Anstand, Glaubwürdigkeit und über das, was unser
       Land jetzt braucht. Es ist, als ob man Marco Materazzi zum Botschafter des
       Fair Play ernennen würde.
       
       3. Natürlich war es eine Kampagne. Oder: Warum Guttenberg gut ist und Wulff
       nicht 
       
       Kennen sie diese Bild-Überschriften? "Der Schnorrer-Präsident – Warum
       handeln sie nicht, Frau Merkel?", "Affären-Wulff: Die Misswahl der
       Bundeskanzlerin", "Wulff im Affären-Sumpf – Merkel guckt zu …", "Nummer 1
       im Staat ist eine 0 - schon wieder. Fehlgriff, Frau Merkel!"
       
       Diese Bild-Überschriften gab es nie, sie sind frei erfunden. Dabei hätten
       sie gepasst, spätestens seit klar wurde, dass Christian Wulff nicht
       zurücktreten wird vom Amt des Bundespräsidenten.
       
       Bemerkenswert: Die Affäre Wulff hat Angela Merkel nicht geschadet, obwohl
       es ihre Entscheidung war, Christian Wulff ins Amt des Bundespräsidenten zu
       hieven, wie sie schon Horst Köhler ins Amt beförderte. Im Gegenteil. Merkel
       wirkt noch affärenfreier, noch ehrlicher, noch präsidialer. Ihre
       Beliebtheitswerte steigen.
       
       Es gibt viele Arten, eine Geschichte zu erzählen. Als Karl-Theodor zu
       Guttenberg – damals noch Verteidigungsminister und Politpopstar der CSU –
       in die Kritik geriet, griff Bild nicht Guttenberg an, sondern jene, die ihn
       kritisierten. "Neider, Nörgler, Niederschreiber!", titelte das Blatt. Sie
       erzählte die Geschichte eines edlen Barons, eines besseren Politikers,
       dessen Feinde neidisch sind, nur deshalb eine belanglose Promotion
       ausgraben.
       
       Kolumnist Franz Josef Wagner, der bei Bild so etwas wie ein Thermometer des
       gesunden Volksempfindens sein soll, stellte klar, was die Geschichte ist:
       "Worum geht es bei den Plagiatsvorwürfen um Ihre Doktorarbeit? Um die
       Reinheit der Wissenschaft? Oder darum, einen Superstar zu entzaubern? (…)
       Also, ich kann von außen sagen: Macht keinen guten Mann kaputt. Scheiß auf
       den Doktor."
       
       Kai Diekmann, der Chefredakteur der Bild, ein ehemaliger Burschenschaftler
       mit elitärem Anspruch, hatte den Baron aus Franken ins Herz geschlossen. Er
       verteidigte ihn, bis zuletzt.
       
       Christian Wulff passte nicht mehr ins Konzept. Er kritisierte Sarrazin, er
       würdigte den Islam als Teil unseres Landes. So hatten sie nicht gewettet –
       Christian Wulff und die Bild.
       
       4. Journalisten als Staatsmänner. Oder: Würde ist ein Konjunktiv 
       
       All die Journalisten, die Kommentatoren, die Leitartikler, die in den
       letzten Wochen darüber schrieben, wie Wulff "das Amt beschädigt" und seine
       Würde verletzt, haben eine seltsame Leidenschaft entwickelt für das Schloss
       Bellevue und seine Bewohner.
       
       Sie sind eine Erklärung schuldig, die Anwälte des Amts: Wie sieht es aus,
       das beschädigte Amt? Wie verletzt man, ganz konkret, seine Würde? Wo ist
       denn bitte der Statusbalken, an dem der interessierte Zuschauer ablesen
       kann, wie verletzt es ist, das Amt des Bundespräsidenten? Und: Welche Ämter
       haben denn noch "eine Würde"? Wie kann man sie beschädigen? Zum Beispiel:
       Wie beschädigt man die Würde des Amtes des Fraktionsvorsitzenden der Grünen
       im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern?
       
       Die Affäre Wulff war keine Staatskrise, viel eher die Chance für
       Journalisten, sich als Staatsmänner zu profilieren. Die Stunde der
       Kommentatoren, der verkappten Politiker. Sie unterhielten sich in einer
       seltsamen Sprache der Uneigentlichkeit, jedes Wort ein Monument, jeder Satz
       ein Fanfarenklang. Stillgestanden! Der König kommt!
       
       Jene Meinungen, so staatstragend und bedeutungsschwer, fanden ihren Weg in
       die Wohnstuben der Mittelschicht, zum Neujahrsempfang der Zahnärzte, zum
       Kinogang von deren Kindern. Sie plapperten nach.
       
       Und wie bei der stillen Post zwangsläufig Sätze verändert werden, je weiter
       man sie tratscht, desto mehr verloren die Ansichten über das Amt an
       Aufrichtigkeit und Authentizität, je öfter man sie wiederholte. "Die Würde
       des Amts ist beschädigt." Hiermit vorgeschlagen als Unsatz des Jahres.
       
       5. Die Geschichte geht weiter. Hannover ist Deutschland 
       
       Es gibt eine falsche Art, medial mit der Affäre Wulff umzugehen und eine
       richtige. Falsch wäre es, Christian Wulff als Einzelfall darzustellen, als
       einsamen Irren mit reichen Kumpeln, einen Glamourfreund, ein Kind des
       Schattens, das ans Licht wollte, zufällig ins Amt des Bundespräsidenten
       stolperte und dabei leichtsinnig das höchste Amt im Staat ramponierte.
       
       Der Fall Wulff ist fast erledigt. Das System Wulff noch lange nicht: das
       Kumpeln und Schulterklopfen jener, die es nach oben geschafft haben; in der
       Politik, in den Medien und in der Wirtschaft. Das System Wulff lebt weiter.
       
       20 Feb 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Felix Dachsel
       
       ## TAGS
       
   DIR Christian Wulff
       
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