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       # taz.de -- Kritik an MRT-Geburt in der Charité: Unter anderen Umständen
       
       > Bei einer Studie der Berliner Charité wurde eine Geburt in einen
       > Magnetresonanztomografen verlegt. Die Öffentlichkeit jubelte, im
       > Hintergrund wird bis heute protestiert.
       
   IMG Bild: Im Berliner Uni-Klinikum wurde 2010 in einem neuartigen MRT die Endphase einer Geburt beobachtet.
       
       HAMBURG taz | Das Berliner Universitätsklinikum Charité meldete eine
       "Weltpremiere", realisiert in der eigenen Radiologie: "Geburt im offenen
       MRT". Das war am 7. Dezember 2010. Beteiligte Forscher wollen den -
       technisch offenbar gelungenen - Versuch demnächst in einem
       US-amerikanischen Fachblatt für Gynäkologie beschreiben. Hinter den
       Kulissen gibt es aber auch Proteste.
       
       MRT steht für Magnetresonanztomograf, ein bildgebendes Gerät, das Fachleute
       auch "Kernspin" nennen. Zur Welt kam in diesem Umfeld ein 2.585 Gramm
       leichter Junge; in der 45-minütigen Endphase der Geburt hatte die Mutter in
       dem neuartigen MRT-Gerät gelegen, das gemäß Beschreibung der
       "Charité-Unternehmenskommunikation" keine klassische Röhre ist, sondern
       aussieht wie ein riesiges, offenes Sandwich.
       
       Die Geburt wurde "komplett" aufgezeichnet; dabei entstand auch eine
       "Videosequenz aus MR-Bildern vom Körperinneren der Mutter und der Bewegung
       des Kindes im Geburtskanal bis zum Austritt des Kopfes", schilderten die
       verantwortlichen Radiologen. Und Ernst Beinder, Direktor der Charité-Klinik
       für Geburtsmedizin, freute sich öffentlich: "Wir haben alle Details, von
       denen wir bislang nur durch Tastuntersuchungen wussten, genau sehen
       können."
       
       Ziel der Wissenschaftler sei es "unter anderem", mithilfe der Bilder besser
       zu verstehen, "warum bei 15 Prozent der Geburten ein Geburtsstillstand
       eintritt, der eine Kaiserschnittentbindung notwendig macht", erläuterte die
       Charité. Wisse man künftig genauer, "wo kritische Phasen sind, stellte
       Professor Beinder in Aussicht, "können wir möglicherweise auch frühzeitig
       einen Geburtsstillstand verhindern".
       
       ## Fünf weitere Geburten sollten beobachtet werden
       
       Mutter und Baby hätten die "Geburt im Dienst der Wissenschaft" gut
       überstanden, kommunizierte die Charité, die Frau habe eine Entschädigung
       von 400 Euro erhalten. Und: Mindestens fünf weitere Geburten sollten ab
       2011 im MRT beobachtet werden.
       
       Zu weiteren Entbindungen dieser Art ist es bisher nicht gekommen. Einfach
       deshalb, sagt der Ingenieur Felix Güttler, weil die meisten Mitarbeiter der
       von ihm einst geleiteten "Arbeitsgruppe Offene MRT" wenige Wochen nach der
       "Weltpremiere" zur Universität Jena gewechselt seien. Auf der Website der
       Charité ist Güttler zwar immer noch als Projektleiter präsent.
       
       Doch tatsächlich arbeitet er in Jena, wohin er 2011 dem Oberarzt Ulf
       Teichgräber gefolgt ist. Der war ebenfalls an der MRT-Geburt beteiligt und
       leitet inzwischen das Jenaer Zentrum für Radiologie. Die "Weltpremiere"
       erntete viel Medienresonanz. Redaktionen produzierten Schlagzeilen wie
       "Charité-Sensation: Geburt live im MRT"; Fernsehsender filmten das
       interdisziplinäre Forscherteam.
       
       Dass dieses Ereignis auch massive Empörung in einigen Fachkreisen
       provoziert hat, war in der Tagespresse noch nicht zu lesen. Im März 2011
       erhielt das Gesundheitsamt Berlin-Mitte einen Brief von GreenBirth, laut
       Selbstdarstellung ein unabhängiger Verein von Eltern, Hebammen und
       Therapeuten.
       
       ## Eventuelle irreversible Schädigung
       
       "Wir führen Beschwerde", schrieb die GreenBirth-Vorsitzende Irene Behrmann,
       "weil junge, unerfahrene Frauen gegen eine Entlohnung irregeführt werden,
       etwas Gutes für die Wissenschaft zu tun und dabei gleichzeitig unwissend
       ihr Kind eventuell irreversibel schädigen."
       
       Obendrein erstattete Behrmann Strafanzeige gegen die an der MRT-Geburt
       mitwirkenden Mediziner - Verdacht: "vorsätzliche (versuchte)
       Körperverletzung". Ihr Anwalt begründete dies unter anderem mit dem Lärm
       von 92 Dezibel, dem das Kind während seines Durchtritts durch das Becken
       der Mutter ausgesetzt worden sei - laute Geräusche, verursacht durch
       Schaltvorgänge im MRT.
       
       Deshalb, so der Vorwurf, sei es "höchstwahrscheinlich" zu körperlichen
       Beeinträchtigungen, insbesondere Gehörschädigungen, gekommen. Zudem wies
       Behrmanns juristischer Beistand darauf hin, dass so starke Magnetfelder wie
       im MRT in der Natur nicht vorkämen. Strahlenschutzexperten mahnen zur
       Vorsicht, wenn Ärzte erwägen, MRT-Aufnahmen während einer Schwangerschaft
       anfertigen zu lassen.
       
       Die Charité hatte in ihren Pressemitteilungen betont: "Im MRT gibt es keine
       schädliche Strahlung für Mutter und Kind." Und die
       "Patientinneninformation", abgestimmt mit der Uni-internen Ethikkommission,
       versicherte der Probandin schriftlich, dass der offene MRT "nach heutiger
       Erkenntnislage ungefährlich für Sie und Ihr Kind" sei.
       
       ## Berliner Staatsanwaltschaft stellte Ermittlungen ein
       
       Die Öffentlichkeitsarbeiter hatten allerdings "unkomfortable Bedingungen"
       während der MRT-Geburt eingeräumt und auch erwähnt, dass die werdende
       Mutter und die beteiligten Forscher einen Gehörschutz trugen. Um die
       Lärmbelastung für das Baby "möglichst gering zu halten", sei der Tomograf
       abgeschaltet worden, als der Kopf des Neugeborenen "ins Freie trat".
       
       Rund zwei Monate nach der Anzeige stellte die Berliner Staatsanwaltschaft
       ihre Ermittlungen ein - Begründung: Es lasse sich nicht nachweisen, dass
       hier eine "Person" geschädigt worden sei; außerdem sei die "Schädlichkeit
       von Magnetstrahlen derzeit wissenschaftlich nicht nachgewiesen". Ein
       strafrechtlich geschütztes "Recht auf eine ungestörte Geburt" existiere
       nicht.
       
       Traumatherapeutin Behrmann, unterstützt von der Gesellschaft für
       Geburtsvorbereitung und dem Fachverband für Hausgeburtshilfe, hakte nach.
       Um den Sachverhalt "richtig feststellen zu können", bat ihr Anwalt die
       Strafverfolger, dokumentarische Aufzeichnungen über die MRT-Geburt
       beizuziehen. Ohne Erfolg, die Generalstaatsanwaltschaft Berlin wies auch
       die Beschwerde ab.
       
       Die Kritikerinnen ließen nicht locker, im August 2011 wurden Behrmann und
       drei Mitstreiterinnen im Gesundheitsamt Berlin-Mitte vorstellig. Sie
       fragten die Chefin sowie den Leiter des Kinder- und Jugendmedizinischen
       Dienstes, ob sie denn den Geburtsbericht anfordern und durchsehen könnten.
       Dies sei nur möglich, wenn die der Behörde unbekannten Eltern zustimmten,
       lautete die Antwort.
       
       ## "Person" im Sinne des Strafrechts
       
       Die Berliner Anwältin Ulrike Riedel, spezialisiert auf Medizinrecht und
       Mitglied im Deutschen Ethikrat, gab Behrmann einen weiteren, brisanten
       Hinweis. "Ich meine", schrieb Riedel, "dass hier auch der Frage nachzugehen
       ist, inwieweit es sich um eine fremdnützige Forschung an
       Nichteinwilligungsfähigen handelt." An ihnen dürfe nur geforscht werden,
       wenn dabei ein Vorteil für die Probanden zu erwarten sei.
       
       Grundsätzlich, erläuterte Riedel, sei das Baby ab Beginn der
       Eröffnungswehen als "Person" im Sinne des Strafrechts anzusehen und durch
       den Körperverletzungsstraftatbestand geschützt; auch das Verbot der
       fremdnützigen Forschung gelte für solche Kinder direkt. Was unzulässig sei,
       könne auch nicht durch Einwilligung der Eltern legitimiert werden.
       
       Zu "möglichen Vorteilen einer Teilnahme" steht in der
       Charité-Patientinneninformation dieser eine Satz: "Neben der erhöhten
       ärztlichen Aufmerksamkeit, der Gewinnung von MR-Bildern (inkl. 3D) Ihres
       Kindes, könnten auch die Bewegungen Ihres Kindes unter der Geburt
       dargestellt werden."
       
       Für die Aufklärung relevant findet Juristin Riedel auch, wer das Projekt
       eigentlich finanziere. Nach Darstellung der Charité agierten die Forscher
       aus eigenem Antrieb, jedenfalls habe es für die MRT-Studie keinen Sponsor
       gegeben. Mehr liest man auf den Internetseiten der Arbeitsgruppe Offene
       MRT.
       
       ## Zweijährige Forschungsarbeit
       
       Sie werde durch den Zukunftsfonds Berlin unterstützt, in dem Gelder des
       Landes und des Europäischen Fonds für Regionalentwicklung stecken. Die
       Medici News, herausgegeben von der Technologiestiftung Berlin, berichteten
       Ende 2010 ebenfalls über die Geburt im MRT.
       
       Vorausgegangen sei zweijährige Forschungs- und Entwicklungsarbeit. Dabei
       sei auch ein "neuartiger fetaler Überwachungsmonitor" entstanden, der die
       Kontrolle der Herztöne des Kindes und der Wehen der Mutter ermöglichte,
       ohne dabei das MRT-Gerät zu stören. "Die Entwicklung", berichteten die
       Medici News, "führte zudem zu zwei Patentanträgen sowie der Anfertigung
       diverser wissenschaftlicher Arbeiten." Der offene Hochfeld-MRT, produziert
       vom Elektronikkonzern Philips, sei bereits 2007 angeschafft worden.
       
       Bei der Geburt im MRT waren Spezialisten des Herstellers anwesend. "Auch
       für Philips Healthcare war dies ein sehr besonderer Moment", sagte Ivar
       Nackunstz, Business Development Manager des Unternehmens. Und er fügte
       hinzu: "Solche Meilensteine in der Medizinforschung, bei denen unsere
       Lösungen so im Fokus stehen, erleben wir nicht jeden Tag."
       
       17 Feb 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Klaus-Peter Görlitzer
       
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