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       # taz.de -- Spielfilmregisseur Andreas Dresen: "Er hat keine Angst vor Peinlichkeit"
       
       > Andreas Dresen hat zum zweiten Mal einen jungen CDU-Politiker
       > porträtiert, "Herr Wichmann aus der dritten Reihe". Ein Gespräch über die
       > Schwierigkeit, Politik zu filmen.
       
   IMG Bild: Ganz nah dran ist Regisseur Dresen an Politiker Wichmann.
       
       taz: Herr Dresen, was ist der zentrale Unterschied zwischen fiktionalem und
       dokumentarischem Erzählen? 
       
       Andreas Dresen: Mit Schauspielern kann ich Situationen darstellen, die sich
       im wirklichen Leben nicht filmen lassen. Manch drastische Szene in "Halt
       auf freier Strecke" wäre im Dokumentarischen nicht erzählbar.
       
       Manche Ihrer Spielfilme muten dokumentarisch, improvisiert an – der
       Dokumentarfilm "Herr Wichmann aus der dritten Reihe" wirkt manchmal wie
       inszeniert. 
       
       Das kann sein. Das Dokumentarische ist ja auch immer das Ergebnis von
       artifiziellen Entscheidungen, ein Ausschnitt von Wirklichkeit. Im Kino gibt
       es aber keine Wirklichkeit, sondern nur den Eindruck von Wahrheit. Wer
       Wirklichkeit sehen will, geht besser auf die Straße, nicht ins Kino.
       
       Der Eindruck des Inszenierten entsteht, weil wir dem Brandenburger
       CDU-Politiker Henryk Wichmann per Ton ganz nah sind. Wir hören jedes
       Räuspern, jede Gefühlsregung. Warum? 
       
       Wir haben ihn mit einem Ansteckmikrofon ausgestattet und nehmen das meiste
       akustisch aus seiner Sicht wahr. Diese Subjektivierung funktioniert im
       Landtag sehr gut: Man hört seine Reaktionen auf die Reden, die im
       Hintergrund bleiben. Das war ein brauchbarer Zugang, denn es ist ungemein
       schwierig, Politik interessant zu zeigen und auch noch die Komplexität der
       Sachverhalte darzustellen. Landtagsdebatten sehen sofort aus wie im
       Fernsehen.
       
       Das Parlament wirkt, aus Wichmanns Perspektive, wie Schule: Er muss
       mitbekommen, was vorne passiert, im richtigen Moment den Arm heben, aber
       wichtig ist, mit dem Nachbarn über Benzinpumpen zu reden … 
       
       Parlament besteht aus Ritualen, Formen. Interessant war, dass TV-Sender die
       Debatten immer bis mittags verfolgen, dann verschwinden die Kameras, das
       verändert die Situation völlig. Vorne tobt die Debatte, oft theatralisch
       vehement zwischen Regierung und Opposition, doch die Abgeordneten laufen
       umher, setzten sich mal hier und dort hin. Das ist auch Arbeit. Die meisten
       Entscheidungen fallen auf den Fluren und in der Kantine.
       
       Abseits von den ritualisierten Redeschlachten geht es familiär und
       konsensorientiert, was typisch für ostdeutsche Parlamente ist … 
       
       Man ist offen, sachorientiert, das stimmt. Den Bürgern, die sich an
       Wichmann wenden, ist sowieso egal, ob er in der CDU oder SPD ist. Wenn ihre
       Heizung nicht geht, soll er helfen.
       
       Wichmann könnte auch der Held eines Defa-Dokfilms sein: Die Welt ist klein,
       die Bürokratie übermächtig, sein Glaube an das Positive unerschütterlich … 
       
       Mit Defa hat das nichts zu tun. Ich glaube, es gibt in der Kommunal- und
       Landespolitik viele Wichmänner.
       
       Ist er ein Unikat – oder typisch? 
       
       Er hat schon etwas Besonderes: Naivität gepaart mit Idealismus.
       
       Ist die Naivität echt oder gespielt? 
       
       Echt. Er ist völlig frei von Zynismus. Und er nimmt alle ernst. Ich habe
       ihn ein Jahr lang begleitet. Es gab keine Situation, in der er sarkastisch
       war, auch nicht, wenn das Mikro aus war. Es gab keine Bürgerstunde, die
       ihn, anders als mich, aus der Fassung brachte. Er hat ja drei Bürgerbüros,
       andere Abgeordnete haben gar keins.
       
       Gab es Szenen, bei denen Wichmann sich verweigert hat? 
       
       Nein, keine. Wir haben vereinbart, dass er Szenen bis 24 Stunden danach
       sperren konnte. Er hat davon nie Gebrauch gemacht. Es macht ihm nichts aus,
       im Misserfolg gesehen zu werden. Es gab in dem ersten Film 2003 "Herr
       Wichmann von der CDU" eine Szene, die ich grenzwertig fand. Es war
       Wahlkampf, und er musste mit Halbbetrunkenen im Fackelschein an einer
       Imbissbude die Nationalhymne singen. Aber er fand: So ist Wahlkampf am
       Imbiss eben, warum soll man das glätten? Er wusste, dass das eine peinliche
       Szene ist. Aber er hat keine Angst vor Peinlichkeit.
       
       Neben dem emphatischen Blick auf den Helden gibt es Szenen an der Grenze
       zur Realsatire: eine Modenschau beim Roten Kreuz, die Bundeswehr trotzt bei
       einer Parade sinnlos einem Wolkenbruch. Wie haben Sie die Balance zwischen
       Empathie und Satirischem gefunden? 
       
       In der Montage. Wir haben sehr lange geschnitten, um das Gleichgewicht
       zwischen der Ernsthaftigkeit der Politik und Unterhaltung zu finden. Die
       Bundeswehr-Orchester, das bei strömendem Regen weiterspielte, war ein
       Geschenk. Es ist eine Metapher, eine Zusammenfassung: Die Figuren sind
       gefangen in einem Korsett von Zwängen, das sie selbst geschaffen haben und
       dem sie nicht entkommen. Wichmann bewegt sich auch in so einem Regelwerk,
       mit dem er klarkommen muss. Er muss widerstrebende Interessen ausgleichen
       und sich dabei durch einen Dschungel von Gesetzen, Rechtsvorschriften,
       Partikularinteressen kämpfen. Das ist sein Job als Politiker.
       
       Wenn wir dem Film folgen, sind der Bau von Radwegen und Züge, die halten,
       aber die Türen nicht öffnen, die Probleme, mit denen Nordbrandenburg
       kämpft. Ist das nicht zu nett? Wo sind Arbeitslosigkeit und No-go-Areas? 
       
       Ich kann nur zeigen, was ich mit Wichmann erlebt habe. Rechtsradikalismus
       tauchte da einfach nicht auf. Es ist aber keineswegs idyllisch. Es gibt die
       alten Damen, die plötzlich über Hartz-IV-Empfänger herziehen. Oder Wichmann
       telefoniert mit einer Wohnungsbaugesellschaft, damit ein Hartz-IV-Empfänger
       eine andere Wohnung bekommt. Die sozialen Probleme kommen vor. Aber alles
       aus seiner Perspektive.
       
       Haben Sie beim Drehen etwas erfahren, was Sie noch nicht wussten? 
       
       Was mich überrascht und erschreckt hat, ist, wie viele Bürger Vorurteile
       gegenüber Politikern haben: Stopfen sich die Taschen voll, interessieren
       sich nicht für uns – die Klischees aus der Bild-Zeitung eben. Es gab oft
       die absurde Situation, dass Bürger sich bei Wichmann beklagten, dass kein
       Politiker zu ihnen kommt. Dabei saß ihr Landtagsabgeordneter direkt vor
       ihnen.
       
       14 Feb 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Reinecke
       
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