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       # taz.de -- Ein Jahr nach Mubaraks Sturz: Die permanente Revolution
       
       > Vor einem Jahr stürzte der ägyptische Diktator Husni Mubarak. Sein
       > verhasster Sicherheitsapparat ist unter der neuen Militärregierung weiter
       > intakt.
       
   IMG Bild: Eine Frau ist zwischen Demonstranten und Polizei geraten.
       
       KAIRO taz | Es ist ein Jahr her, da dankte der ägyptische Diktator Husni
       Mubarak nach einem 18-tägigen Aufstand endlich ab. Millionen feierten
       ekstatisch. Die Polizei war verschwunden. Nachdem sie und angeheuerte
       Schläger für den Tod von 840 Demonstranten verantwortlich waren, ging
       Mubaraks verhasster Sicherheitsapparat einfach nach Hause.
       
       Fast genau ein Jahr später: Wütende Demonstranten belagern das
       Innenministerium in Kairo. Sie machen den Sicherheitsapparat für den Tod
       von über 80 Fußballfans im Stadion von Port Said verantwortlich. Bei
       anschließenden Zusammenstößen sterben 15 Menschen, die meisten nach dem
       Gebrauch von Schrotmunition. Tausende werden verletzt, viele erblinden.
       
       Innenminister Mohammed Ibrahim streitet ab, dass seine Polizei
       Schrotgewehre einsetzt. Stunden später kursiert im Internet das Bild der
       26-jährigen Aktivistin Salma Said: ihre Beine und ihr Gesicht gespickt mit
       Schrot. Hundert Schrotteile sind in ihrem Körper, erklärt deren Mutter Mona
       Mina, die im Vorstand des Ärzteverbandes sitzt.
       
       Ihre Tochter habe Glück gehabt, eine Schrotkugel war nur vier Millimeter
       von ihrem Auge entfernt eingedrungen. Der Innenminister spricht von einer
       unbekannten "dritten Hand". Aktivisten stellen daraufhin Videos in Netz,
       die eindeutig zeigen, wie Polizisten in den Straßen rund um das
       Innenministerium mit Schrotgewehren schießen.
       
       ## Konkrete Reformvorschläge
       
       "Die Polizei ist noch brutaler als zu Zeiten Mubaraks geworden", lautet
       Karim Midhats Ennarahs Bilanz. Der junge Menschenrechtsaktivist ist
       Mitautor der "Initiative zum Neuaufbau der Polizei", ein 30-Seiten-Dokument
       über eine Reform des Sicherheitsapparates. Ennarah hat das mit
       Menschrechtsgruppen und einer Gruppe ehemaliger Polizeioffiziere namens
       "Wir sind Polizeioffiziere, aber ehrenhaft" ausgearbeitet.
       
       "Alle reden von der Polizeireform, wir dachten, wir müssen das einmal
       konkret ausarbeiten", sagt er. Vorbilder gäbe es viele, vor allem beim
       Übergang der Diktaturen Lateinamerikas zu Demokratien, "die unserem Fall
       demografisch und sozial und wirtschaftlich wahrscheinlich am nächsten
       liegen", erklärt er. In Ägyptens Innenministerium und Militärführung sieht
       er derzeit allerdings keinen politischen Willen. "Sie reden immer nur
       davon, dass sie ihr Vertrauen zurückgewinnen müssen, ändern wollen sie
       nichts", meint er.
       
       "Warum auch?", sagt dazu Oberst Mohammed Machfus, ein Polizeioffizier, der
       nach 21 Dienstjahren die Praktiken des Apparates offen angeprangert hatte
       und in Folge Ende 2009 entlassen wurde. Im Januar hat ein Gericht
       geurteilt, dass er wieder in den Dienst aufgenommen werden muss. Machfus
       gehört dem "Bündnis der aufrechten Polizeioffiziere" an. "Solange Leute der
       alten Schule das Ministerium führen, wird es sich als eines der größten
       Hindernisse für eine demokratische Entwicklung Ägyptens erweisen", sagt er.
       
       Banküberfälle, Entführungen, Einbrüche und blutige Auseinandersetzungen
       seien kein Zufall, glaubt der Offizier. "Dieses Sicherheitsvakuum ist eine
       bewusste Entscheidung des alten Apparates. Sie haben absichtlich in den
       letzten Monaten ein Sicherheitsvakuum geschaffen, damit die Menschen danach
       rufen, den alten Apparat zurückzuhaben."
       
       ## "Wir brauchen harte Maßnahmen"
       
       Die Initiative zur Reform des Sicherheitsapparates sieht zunächst eine
       umfassende unabhängige Überprüfung aller Offiziere vor. "Manche werden dann
       entlassen, andere versetzt oder rehabilitiert", erläutert Midhat. Wer für
       Folter oder Tod verantwortlich ist, müsste strafrechtlich zur Rechenschaft
       gezogen werden. Gleichzeitig müsse der Polizeiapparat unabhängig
       kontrolliert werden - auch technologisch, durch Videoüberwachung in
       Haftzentren und Polizeistationen. "Wir brauchen harte Maßnahmen und
       gläserne Polizeiwachen, sonst ändert sich nichts", fordert Oberst Machfus.
       
       Die Polizei, so der Oberst weiter, müsse demilitarisiert und
       dezentralisiert werden, Pass- und Meldewesen, Strom- und Steuerpolizei
       gehörten ausgegliedert. "Das Absurdeste ist die alljährliche Lotterie für
       die Pilgerfahrt nach Mekka", lacht er.
       
       Ennarah hat das Reformkonzept einigen Parlamentariern vorgestellt. Erst
       gestern hatte er Treffen mit mehreren hochrangigen Muslimbrüdern. Doch das
       gewählte Parlament hat derzeit überhaupt keine Macht. Es ist der oberste
       Militärrat, der Minister ein- und absetzt. Und weder beim Militär noch im
       Ministerium zeigt man sich bisher an der Reforminitiative interessiert.
       
       "Ein Jahr nach Mubaraks Sturz sehen wir, dass sich wenig geändert hat",
       sagt Ennarah. "Wenn du das einmal kapierst, dann siehst du deine Arbeit als
       Teil einer andauernden Revolution."
       
       11 Feb 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Karim Gawhary
   DIR Karim El-Gawhary
       
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