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       # taz.de -- Gene und Intelligenz: Schlau geboren oder schlau geworden?
       
       > Intelligenz sei vererbbar, mindestens zu 75 Prozent. Zu diesem Ergebnis
       > kommt Dieter E. Zimmer in seinem neuen Buch. Was sagt das über Sarrazins
       > Thesen aus?
       
   IMG Bild: Eineiige Zwillinge sollen angeblich zeigen, was vererbt ist und was umweltbedingt.
       
       BERLIN taz | Das Medieninteresse scheint diesem Buch sicher. Rowohlt als
       herausgebender Verlag bezieht sich in seiner Presseankündigung ausdrücklich
       auf Thilo Sarrazin. Auch der Autor Dieter E. Zimmer verweist in seiner
       Einleitung auf die Kontroverse um die Veröffentlichung von "Deutschland
       schafft sich ab", erklärt sogar die Reaktion der SPD-Parteiführung auf
       Sarrazins Machwerk als sein Hauptmotiv, sich zu diesem Thema zu äußern.
       
       Dabei behandelt sein Buch "Ist Intelligenz erblich? - Eine Klarstellung"
       nur eine von vielen Fragen, die die Debatte um das sich angeblich selbst
       abschaffende Land in Mitteleuropa befeuerte. Und: wer das Buch von Dieter
       E. Zimmer liest, wird mehr Kritisches als Zustimmendes zu Sarrazins
       Gedankenwelt entdecken.
       
       Zunächst klärt der bekannte Wissenschaftsjournalist und langjährige
       Feuilletonchef der Zeit über den aktuellen Stand auf. Was ist Intelligenz?
       Ist sie messbar? Ist sie gar objektiv messbar?
       
       Dabei berichtet er auch von der Geschichte des Konflikts zwischen
       Biologisten und Sozialwissenschaftlern, die seit den 1960er Jahren
       insbesondere in den USA wütete und die einen rationalen Zugang zum Thema
       laut Zimmer erschwert. Mit IQ-Tests wollte der umstrittene Psychologe
       Arthur Jensen bewiesen haben, dass Weiße klüger seien als Schwarze. Er
       stellte die bislang nicht belegte These auf, dass dies genetische Ursachen
       habe.
       
       ## Intelligenzbegriff in Frage gestellt
       
       Sofort entbrannte ein heftiger Disput. Man bezichtigte diejenigen aus dem
       anderen Lager, Rassist und Faschist zu sein. Manche Sozialwissenschaftler
       wiederum negierten schlicht, dass organische Ursachen Auswirkungen auf die
       Intelligenz des Menschen haben, oder stellten den Intelligenzbegriff
       gänzlich in Frage.
       
       Dieter E. Zimmer, dies ist leicht zu erkennen, steht auf der Seite der
       Wissenschaftler, die eine starke genetische Ursache in der Entwicklung von
       Intelligenz sehen. Diese Position versucht er anhand von
       Zwillingsbeobachtungen zu beweisen und berichtet vom "Minnesota Twin
       Project", einem US-amerikanischen Forschungsinstitut, das seit über 30
       Jahren viele eineiige Zwillinge, die kurz nach ihrer Geburt getrennt
       wurden, als Erwachsene befragt und untersucht.
       
       Obwohl die genetisch annähernd identischen Zwillinge in sehr
       unterschiedlichen Milieus aufwuchsen, weisen sie doch frappierende
       Ähnlichkeiten auf. Die Intelligenz, so das Ergebnis der Forscher aus
       Minneapolis, werde zu etwa 75 Prozent vererbt.
       
       Andere Parallelen allerdings scheinen bei manchen Zwillingen so
       unglaublich, dass sie eher ein Fall für die Boulevardpresse sind als für
       eine wissenschaftliche Untersuchung. Zwillinge hielten ihre Bierdose in der
       gleichen Art und Weise, obwohl sie als Säuglinge voneinander getrennt
       wurden. Andere gestalteten ihren Garten auffallend ähnlich. Ob es also ein
       Bierdosen- oder Vorgarten-Gen gibt? Andere Gründe scheinen hier
       wahrscheinlicher.
       
       Völlig unberücksichtigt lässt Zimmer die aktuellen Erkenntnisse der
       Forschung bezüglich der pränatalen Hirnentwicklung. Studien belegen
       inzwischen, dass die Bildung von Synapsen zwischen den Hirnzellen bereits
       im Mutterleib beginnt und von der unmittelbaren Umwelt beeinflusst wird.
       Musik von Mozart, so eine gängige und natürlich vereinfachte These, macht
       den Fötus schlau.
       
       Die Auslassung dieser Komponente mag eines der großen Schwächen des Buches
       von Zimmer sein. Andererseits, Zimmer zitiert auch Studien, die die
       Intelligenz von eineiigen mit zweieiigen Zwillingen vergleicht. Hier
       unterscheiden sich die pränatalen Einflüsse nicht. So kann man in den
       unterschiedlichen Ausprägungen der Intelligenzdifferenzen zwischen den
       genetisch gleichen und ungleichen Geschwistern auch auf erbliche Ursachen
       schließen.
       
       ## Spanne von 10 bis 20 IQ-Punkten
       
       Insgesamt, so Zimmer, betrage der genetische Einfluss auf die Intelligenz
       bei Erwachsenen auch bei diesen Untersuchungen mindestens 75 Prozent.
       
       Was aber bedeutet dies für die Gesellschaft? Das weite Spektrum der
       Umwelteinflüsse lasse, so der Autor, eine Spanne von 10 bis 20 IQ-Punkten
       zu. Ob jemand einen IQ von 90 oder von 110 hat, mag im heutigen Schulsystem
       aber von eminenter Wichtigkeit sein. Eine genetische Festlegung des
       individuellen Schicksals sieht anders aus.
       
       Brisant wird Zimmer an dem Punkt, an dem er sich ethnischen Unterschieden
       bezüglich der Intelligenz zuwendet. Dabei ist er nicht ahistorisch, sondern
       bezieht klar Stellung gegen rassistisches Denken.
       
       Auch kritisiert er vehement Sarrazin, der mit "islamischen und jüdischen
       Genen" das Thema skandalisierte und diskreditierte. Ein ganzes Kapitel lang
       drückt sich Zimmer aber um eine eigene Aussage, begründet dies mit der
       Gefährlichkeit, gerade als Deutscher hier Stellung zu beziehen, und zitiert
       nur internationale Wissenschaftler, deren Aussagen sich aber oft
       widersprechen.
       
       Auffällig dabei: Es gibt keinen islamisch geprägten Gencode. Eine
       mathematische Teilleistungsschwäche sei zwar im gesamten Mittelmeerraum
       festzustellen, die schwächsten Rechenkünstler aber kommen aus christlichen
       Ländern, wie etwa aus Bulgarien und dem Mutterland der Mathematik, aus
       Griechenland.
       
       ## Mehr Zucker und Milch als Nahrung
       
       Um sich ethnischen Unterschieden gefahrlos widmen zu können, schreibt
       Zimmer über unterschiedliche Körpergrößen auf der Welt. Dass die Menschheit
       in den letzten 150 Jahren sowohl intelligenter wie auch größer geworden
       ist, lasse sich, so der Autor, auf mehrere Faktoren zurückführen. Die
       Ernährungslage habe sich verbessert. Es werde mehr Zucker und Milch als
       Nahrung verwendet.
       
       Ein anderer Punkt mag bezüglich der Sarrazin-Kontroverse aufhorchen lassen.
       In Bergdörfern im Tessin wurde in den 1950er-Jahren beobachtet, dass die
       Menschen entgegen dem weltweiten Trend nicht größer wurden als ihre
       Vorfahren. Dort heiratete man grundsätzlich nur innerhalb des Dorfes.
       
       Große Elternteile, so die Erklärung des Phänomens, setzen sich genetisch
       gegenüber den kleineren durch. Bei genetischer Vielfalt ist also mehr
       Entwicklung möglich. Dies mag auch auf die Intelligenzentwicklung
       zutreffen. Deutschland, so ist anzunehmen, schafft sich also nur ab, wenn
       innerhalb eines Dorfes geheiratet wird, es sich gegen Migration abschottet.
       
       20 Jan 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lutz Debus
       
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