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       # taz.de -- Inklusion an deutschen Schulen: Verschieden, nicht anders
       
       > Vielfalt ist gut – so lautet das Prinzip der Inklusion. Doch der Weg zu
       > einer inklusiven Gesellschaft ist weit. Welche Hürden liegen noch vor
       > uns, wie können sie überwunden werden?
       
   IMG Bild: "Wir sind alle verschieden verschieden" – das Buch beschreibt, wie diese Tatsache für Schulkinder selbstverständlich werden soll.
       
       Wer sich dieser Tage mit dem Begriff der Inklusion befasst, landet in einer
       Schlucht. Die auf der einen Seite haben keine Ahnung, was das eigentlich
       bedeuten soll. Die auf der anderen wissen es so genau, dass schnell Streit
       über winzige Details ausbricht. Das Buch "Eine Schule für alle" zeigt den
       Weg auf dem vermeintlich weißen Fleck auf der Landkarte – der in Wahrheit
       schon ziemlich gut profiliert ist.
       
       LehrerInnen, die im Umgang mit sehr heterogenen Schülergruppen vertraut
       sind, werden in "Eine Schule für alle" höchstwahrscheinlich viele alte
       Bekannte begrüßen können: offene Lernformen, Klima der Wertschätzung, den
       Rollenwechsel vom Pauker zum Coach. Da wird bei vielen, die sich bislang
       einsam fühlten, Freude darüber aufkommen, dass sie sich auf dem richtigen
       Weg befinden. Erfreulich ist auch, dass eine oft wenig beachtete
       pädagogische Randgruppe, die SonderpädagogInnen, so durchgängig zu Wort
       kommt – mit ihrer Expertise.
       
       Möglicherweise verstecken sich hier auch die bislang unscheinbaren Chancen
       des Paradigmenwechsels von "Regelschulen" zu gelebten Inklusionsschulen.
       FörderschullehrerInnen haben ja selten die Gelegenheit, einen "normalen"
       Regelschüler zu unterrichten. Dafür haben sie unendlich viele Chancen,
       Kinder in ihrer Entwicklung zu begleiten, Schritt für Schritt.
       
       Dazu passt aber keine Methode 08/15, die in mancher Regelschule den Alltag
       bestimmt. Dies geht nur in einem Klima des Vertrauens, der Wertschätzung,
       in offenen anregenden Lernräumen, mit hoher Sach- und Methodenkompetenz
       plus diagnostischer Sicherheit. Was nun für besondere Kinder mit
       diagnostiziertem Förderbedarf gilt - und das ist eigentlich eine
       Binsenweisheit - ist für alle Kinder bedeutsam. Die sonderpädagogische
       Kompetenz des Auffindens der "Zone der nächsten Entwicklung", sie wird in
       einem guten inklusiven Schulkonzept auf alle Beteiligten ausgeweitet: vom
       Schwerstmehrfachbehinderten bis zum Hochbegabten, vom Integrationshelfer
       bis zum Schulleiter.
       
       ## Herausforderungen überwinden
       
       Die Herausforderungen, die eine solche Schule der Vielfalt zu bewältigen
       hat, werden deutlich, die Schritte, die zu gehen sind, aufgezeigt. Wo viele
       Experten im Nebel stochern und Talkrunden zurück ins letzte Jahrhundert
       gehen, da gibt "Eine Schule für alle" Auskunft - und macht Hoffnung. Und
       die brauchen wir: Denn die Hürden, die auf dem Weg zu einer allgemein
       anerkannten Inklusion zu überspringen sein werden, sind oft hoch - höher,
       als viele sich zu überwinden zutrauen.
       
       Wer neugierig ist auf die Veränderung von Schule findet in dem Werk
       verschiedener Autoren fundierte theoretische Einschübe, Checklisten aller
       wichtigen pädagogischen Bereiche, spannende und nachvollziehbare
       Unterrichtseinheiten und Hinweise auf Materialien - alles Beispiele aus der
       Praxis bereits gelingender Inklusion. Es schafft Mut, sich auf den Weg zu
       machen. Wer sich fürchtet, Frontalunterricht und Schubladisierungshaltung
       aufzugeben, wird nach der Lektüre das Buch verdammen.
       
       Wer sich fürchtet, dass es immer so weitergehen könnte mit unserem
       superexklusiven Schulsystem, wird etwas ganz anderes erleben. Die
       Berichtenden sehen in der entstehenden inklusiven Schule ein Nest, ein
       Nest, in dem eine inklusive Gesellschaft vorbereitet wird. Die Vision
       dieser Gesellschaft heißt: dass Verschiedenheit Vielfalt bedeutet und
       Schule dieser gerecht werden kann - wenn vielfältig gehandelt wird. Dazu
       gehört:
       
       1. eine Vielfalt im Team. Hilfreich sind hier gerade die Hinweise zum Thema
       Schulhelfer und Assistenz sowie Beispiele für sinnvolles Teamteaching, da
       ich in einer inklusiven Klasse als alleinige Lehrkraft nicht mehr sinnvoll
       unterrichten kann.
       
       2. eine Vielfalt in der Methodik, Binnendifferenzierung ist tägliches Brot.
       Aufgelockert werden kann dies durch unterschiedliche Sozialformen und
       Arrangements der Lernangebote, auch Hinweise zum Umgang mit Förderplänen
       werden ebenfalls sehr deutlich und motivierend beschrieben.
       
       3. eine Vielfalt der Schulstruktur, Auflösung starrer Unterrichtszeiten und
       -orte zugunsten offener Lernzeiten, kreative Angebote und Nutzung
       außerschulischer Lernorte und Experten. Schule als Lern- und Lebensort wird
       begeisternd aufgezeigt.
       
       Besonders berührt hat mich das Resümee der Lehrer nach der
       Unterrichtseinheit "Wir sind alle verschieden verschieden". Schüler nehmen
       sich in heterogenen inklusiven Klassen sehr deutlich in ihrer
       Verschiedenheit wahr - aber sie hören auf, dies abzuwerten, sondern
       beginnen etwas, das ganz selbstverständlich sein sollte, es aber lange noch
       nicht ist: Verschiedensein als interessant und "normal" zu empfinden.
       
       Diese Kinder sind die Botschafter und die Vorbilder für eine Gesellschaft,
       die es zwar noch nicht gibt, die aber möglich ist.
       
       ## "Eine Schule für alle: Inklusion umsetzen in der Sekundarstufe". Verlag
       an der Ruhr, Mülheim 2011, 360 S. 26,90 Euro. Das Buch kann direkt beim
       Elternverein mittendrin e.V., der sich der Inklusion besonderer Kinder
       verschrieben hat, bestellt werden.
       
       18 Jan 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sylva Brit Jürgensen
       
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