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       # taz.de -- Unruhen und Generalstreik in Nigeria: Mit Feuer und Flamme
       
       > Der am Montag begonnene Generalstreik gegen höhere Benzinpreise hat sich
       > zu einer breiten Protestbewegung entwickelt, die inzwischen fast das
       > ganze Land lahmlegt.
       
   IMG Bild: In Lagos gehen alle Schichten der Bevölkerung auf die Barrikaden.
       
       BERLIN taz | Ein Land steht still. Am zweiten Tag des Generalstreiks in
       Nigeria gegen die Streichung von Benzinpreissubventionen durch die
       Regierung blieben die Proteste gestern ungebrochen. In Lagos, größte Stadt
       Afrikas, formierten sich am Dienstagvormittag Tausende zu einer
       Demonstration durch die Innenstadt, während Jugendliche brennende
       Straßensperren an Zufahrtswegen zu Nobelvierteln errichteten und Autos mit
       Steinen bewarfen. Afrobeat-Songs der Musiklegende Fela Kuti begleiteten den
       Marsch, dem Augenzeugen zufolge Soldaten am Straßenrand applaudierten.
       Taxis und Ladenbesitzer, die aus Existenznot trotz des Streikaufrufs
       arbeiteten, hissten Zweige mit grünen Blättern als Zeichen der Solidarität.
       
       Während frühere Generalstreikaufrufe der nigerianischen Gewerkschaften oft
       wenig Widerhall außerhalb der Minderheit der organisierten
       Arbeitnehmerschaft in Staatsdienst und Ölsektor fanden, hat sich diesmal
       eine breite Massenbewegung gebildet. Die berühmten geschwungenen
       Stadtautobahnen, die die verschiedenen Teile von Lagos über Lagunen hinweg
       verbinden, waren am Montag ebenso leer wie Häfen und Flughäfen.
       
       In der Hauptstadt Abuja waren Ministerien und andere staatliche Gebäude
       verwaist, während sich der ein oder andere Parlamentsabgeordnete kurzerhand
       den Demonstrationen anschloss. Aus fast allen Provinzhauptstädten wurde
       gemeldet, sämtliche Aktivitäten seien eingestellt. In zahlreichen Städten
       nannten die Demonstranten zentrale Plätze in "Tahrirplatz" oder "Freedom
       Square" um. "People Power!" titelte gestern Nigerias einflussreichste
       Tageszeitung Guardian.
       
       ## Bewegung so vielschichtig wie die Bevölkerung
       
       Der Ablauf der Proteste zeigt die Bandbreite der Bewegung. Frühmorgens
       kommen die organisierten Marschierer, angeführt von bekannten
       Gewerkschaftslern und Bürgerrechtlern, Rechtsanwälten im Anzug, sogar
       Schauspielern. Im Laufe des Tages wird auf leeren Straßen Fußball gespielt,
       Jugendliche sammeln sich, mit fortschreitender Stunde entwickeln sich
       Rangeleien mit Sicherheitskräften. Mit Einbruch der Dunkelheit treten hier
       und da Banden in Aktion. Am Ende des ersten Streiktages am Montag zählten
       Nigerias Medien 12 Tote, sieben davon in Kano und fünf in Lagos. In der
       Stadt Kaduna sagten die Gewerkschaften am Dienstag daher weitere
       Demonstrationen ab.
       
       Eigentlich hatte Präsident Goodluck Jonathan nur das Beste im Sinn, als er
       zum Jahreswechsel die einst von Nigerias Militärdiktatoren als
       populistische Maßnahme eingeführte Benzinpreissubvention abschaffte. Er
       wollte den alten Teufelskreis durchbrechen, wonach Afrikas größter
       Ölproduzent südlich der Sahara sein Erdöl komplett exportiert und die
       Einnahmen davon für Benzinimporte draufgehen. Dies wird organisiert von
       einer schmalen Elite mit fetten Profiten und garantiertem Absatzmarkt dank
       künstlich niedrig gehaltener Endverkaufspreise. Ab jetzt soll Benzin zu
       Marktpreisen verkauft werden, Ölexporteinnahmen sollen in funktionierende
       Raffinerien, Kraftwerke, Stromleitungen, Straßen und soziale Sicherung
       fließen.
       
       ## Hoffnung auf Erfolg im Kampf gegen die Ölmafia
       
       Aber nur eine Minderheit der 160 Millionen Nigerianer kann sich Benzin zu
       Marktpreisen leisten. Und wenn Benzin teurer wird, steigen auch alle
       anderen Preise auf den Märkten, weil Verbraucher und Händler Transport
       brauchen. Daher ist die Mehrheit des Volkes gegen die Reform, obwohl viele
       alte Reformer auf der Seite des Präsidenten stehen und auf den Erfolg ihres
       jahrzehntelangen Kampfes gegen Nigerias herrschende Ölmafia hoffen. Die in
       die Jahre gekommene nigerianische Bürgerrechtsbewegung, groß geworden im
       Kampf gegen die Militärdiktatur Ende des 20. Jahrhunderts, wird nun auf den
       Straßen von einer neuen Protestkultur abgelöst.
       
       "Bald haben die Armen nichts mehr zu essen außer die Reichen", stand auf
       einem Transparent in Abuja. "Boko Haram bombt physisch, Präsident Jonathan
       bombt wirtschaftlich", hieß es auf einem anderen in Lagos unter Verweis auf
       Nigerias radikale Islamisten. Im traditionell unruhigen Yoruba-Land um
       Lagos meldete sich eine "Occupy Nigeria"-Bewegung mit einem
       10-Punkte-Katalog zu Wort. Punkt 1: Öffentliche Hinrichtung als Strafe für
       Korruption.
       
       Von Lagos bis Kano, die beiden größten Städte des Landes, betonen die
       Organisierer der Demonstrationen, dass Christen und Muslime vereint kämpfen
       - eine beachtliche Leistung in einer Zeit wiederholter Anschläge radikaler
       Islamisten auf Christen und mehrfacher Racheaufrufe. "Nigeria ist für alle
       da", sangen die Marschierer in Lagos. "Wir haben kein anderes Land." Es
       gibt allerdings auch andere Szenen wie das Anzünden einer Moschee in Benin
       City am Montag und die Flucht von 2.000 Muslimen in das
       Polizeihauptquartier.
       
       10 Jan 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Dominic Johnson
       
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