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       # taz.de -- Muss Europa deutsch werden? Antwort 6: Echt keine Lösung
       
       > Der deutsche Perfektionismus zerstört tonnenweise Lebensfreude.
       
       Zehn Jahre hat es gebraucht, bis er endlich kam!" Suzana zeigt lachend und
       mit kreisenden Augen auf die dicken Brillengläser ihres Sohnes, bevor sie
       ihm geduldig bei den Hausaufgaben hilft.
       
       "Und - willst du noch mehr Kinder?"
       
       "Klar, aber es passiert ja nix." Kein Schuldgefühl, keine Schuldzuweisung,
       stattdessen unaufgeregtes Einsehen in die eigene Ohnmacht. Wie ungewohnt,
       wie angenehm!
       
       Ich sitze mit Suzana in einer der Reichensiedlungen 40 Kilometeraußerhalb
       von Kairo. In ihrer Gesichtslosigkeit ähnelt diese sehr den Neubaugebieten
       im Rhein-Main-Gebiet, dort, bei den Mülltonnen, die in kleinen
       Waschbetonhäuschen verborgen wurden, bin ich aufgewachsen.
       
       Jetzt trinke ich auf Suzanas Terrasse Tee in der Wintersonne und fühle mich
       in New Cairo, so weit weg von Kindheitsorten, sofort heimisch.
       
       Doch in Deutschland, stelle ich mir vor, hätte eine Frau im gleichen Alter
       und mit ähnlicher sozialer Stellung, also Ende dreißig, gebildet, beruflich
       erfolgreich, den gleichen Satz unwillkürlich mit Stirnfalten und einem
       Seufzen unterlegt, hätte mir womöglich erzählt, welchen aufreibenden
       Gebrauch sie und ihr Mann von der modernen Reproduk-tionsmedizin gemacht
       haben.
       
       Suzana aber lacht und nichts in ihrem Gesicht deutet auf
       Selbstzerknirschung hin. Es liegt nicht in ihrer Hand, sie gibt sich Mühe,
       aber wenn es nicht passiert, passiert es eben nicht, inschallah. Wofür
       sollte sie sich schämen? Dass sie die Norm nicht erfüllt, bereitet ihr
       vielleicht Probleme, aber sicher kein schlechtes Gewissen.
       
       Nein, ich will nicht, dass jene zumal in Deutschlands Mittelschicht
       grassierende Manier, ich bin für alles verantwortlich, ich will Kontrolle
       und der Zufall ist mein Feind, Grenzen überwindet und auch noch Europa
       infiziert.
       
       Diese stete Anmaßung und Überforderung, dieser elende Perfektionismus, er
       vernichtet schon hierzulande tonnenweise Lebensfreude, und zwar jeden Tag
       aufs Neue. Das ist echt keine Lösung.
       
       30 Dec 2011
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ines Kappert
       
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