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       # taz.de -- Intellektuelle und Systemveränderung: Alles könnte anders sein
       
       > "Interventionen" im Berliner Haus der Kulturen der Welt: Zehn
       > Intellektuelle bemühten sich, die marktradikalen "Angriffe auf die
       > Demokratie" abzuwehren.
       
   IMG Bild: Bei der Eurorettung werden Politik und Ökonomie ununterscheidbar.
       
       Widerspricht überhaupt noch jemand? Das hatte sich in den letzten Monaten
       mancher gefragt. Die Welt durchlebt das dramatischste Jahr seit der
       Weltwirtschaftskrise 1929. Und gäbe es den einsamen Mahner Jürgen Habermas
       nicht, man könnte das Gefühl gewinnen, als folge eine Gesellschaft in
       Schockstarre willig den Politikern bei ihrem Versuch, die Märkte zu
       "beruhigen" anstatt die Demokratie zu beleben.
       
       Dass die Spezies der Intellektuellen dazu überhaupt nichts zu sagen hat,
       wird man nach diesem Wochenende nicht mehr sagen können. Denn an Vehemenz
       ließ die "Intervention" nichts zu wünschen übrig, mit der zehn
       Intellektuelle, Künstler, Autoren und Wissenschaftler, im Berliner Haus der
       Kulturen der Welt einen "Angriff auf die Demokratie" abwehren wollten.
       
       Der Berliner Literaturwissenschaftler Joseph Vogl sah bei der sogenannten
       "Eurorettung" gar ein "Milieu des Staatsstreichs" am Werk - so wie im
       Schmelztiegel der Brüsseler Gipfel Politik und Ökonomie ununterscheidbar zu
       werden begännen.
       
       Vollkommen neu waren die Formeln nicht, mit denen die zehn Empörten, die
       der Kulturwissenschaftler Harald Welzer und der Autor Roger Willemsen
       zusammengetrommelt hatten, ihre Brandreden gegen diese Ersetzung der
       Demokratie durch die Ökonomie spickten. Carolin Emcke geißelte das
       "Demokratiedefizit der EU", Julia Encke die "Diktatur der Sachzwänge". Und
       Franziska Augstein prangerte die "autoritären Gouvernanten" an, die den
       Griechen untersagt hatten, über die EU-"Hilfspakete" abzustimmen.
       
       Doch wenn schon die Deutungseliten schweigen. Wer sollte dann davor warnen,
       dass eine ominöse "Troika" den Kern der europäischen Identität -
       demokratische Selbstbestimmung - suspendiert? Angesichts der mit sich
       selbst beschäftigten Sozialwissenschaften erregte sich Welzer über die
       "Haltung der Unzuständigkeit" seiner Universitätskollegen.
       
       ## Diskursives Terrain gewinnen
       
       Wie die konkret aussehen könnte, blieb bei dem Meeting im Dunkeln. Dass die
       Politik wieder "mögliche Zukünfte entwerfen" sollte, statt sich der
       Finanzindustrie zu unterwerfen, wie es der Designtheoretiker Friedrich von
       Borries forderte, ist so richtig wie allgemein. Und wer auf dem "Primat des
       Politischen", beharrt, wie der Schriftsteller Ingo Schulze, hat die Frage
       nach dessen Inhalt noch nicht beantwortet. Was genau soll dieser Primat
       durchsetzen?
       
       Wären die zehn an der Macht, kämen sie vermutlich auch nicht darum herum,
       das ein oder andere Haushaltsdefizit zu reduzieren. Vermutlich regierte es
       sich aber anders, wenn sich Politik wieder die einfachen Fragen stellte,
       die für Schulze im neoliberalen Wahn der letzten Jahre verloren gegangen
       waren: "Wem nützt es? Wer verdient daran? Ist das gut für das Gemeinwohl?
       Was für eine Gesellschaft wollen wir?"
       
       Schulze führte das Berliner Wasserbegehren als gelungenes Beispiel dafür
       an, diesem in Verruf geratenen Begriff wieder zum Durchbruch zu verhelfen.
       2010 war der Senat der Hauptstadt gezwungen worden, die Verträge zur
       Privatisierung der kommunalen Wasserbetriebe offenzulegen. Eine
       "Intervention" im klassischen Sinne des Wortes war die Berliner
       Protest-Matinee nicht. Weder ketteten sie sich am Kanzleramt direkt
       gegenüber der Kongresshalle an noch hielten sie Mahnwache an einer Bank.
       
       Die Reden in einem Saal ohne Tageslicht am Rednerpult waren der Versuch,
       diskursives Terrain zu gewinnen. Der für Willemsen umso wichtiger war, als
       das "System der Marktwerdung" nicht nur die Politik, sondern auch die
       Kultur zu ersetzen beginne. In den Medien machte der Extalkmaster eine
       "Vertreibung alternativer Gedanken" aus. Macht er wirklich Ernst mit der
       "Systemveränderung", die er für dringend geboten hält, wäre zumindest ihm
       der Quantensprung vom bloß engagierten zum "intervenierenden"
       Intellektuellen geglückt.
       
       Wie weit die Gegenöffentlichkeit trägt, die er jetzt organisieren will,
       muss sich erst noch zeigen. Der Resonanzraum dafür existiert, wie der
       Beifall im Publikum zeigte. Und wer nach der "Intervention" durch das
       menschenleere Regierungsviertel nach Hause spazierte, fühlte förmlich, wie
       der schöne Satz im Bewusstsein zu gären begann, den sich Nils Minkmar, der
       künftige Feuilleton-Chef der FAZ, angeblich über seinen Frankfurter
       Redaktionsschreibtisch gehängt hat. Entlehnt will er ihn bei einer Berliner
       Anarchistenkneipe haben: "AKAS - Alles könnte anders sein".
       
       19 Dec 2011
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ingo Arend
       
       ## TAGS
       
   DIR tazlab 2012: „Das gute Leben“
       
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