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       # taz.de -- Debatte Geheimdienste: Virtuelle Schützengräben
       
       > Echter Republikschutz muss sich auf die Prävention und Ahndung
       > politischer Gewalt beschränken. Durch Beobachterei die Verfassung
       > schützen zu wollen, bringt nichts.
       
   IMG Bild: Böser Blick auf die politischen Gegner des Staats - aber was bringt's?
       
       Für Montagabend hatte der hessische Innenminister zum traditionellen
       Herbstgespräch geladen, das die Landesregierung seit 14 Jahren in Wiesbaden
       abhält. Angesetzt war dieses Mal eine "Debatte um den Kommunismus -
       Renaissance einer politischen Ideologie?", eingeleitet durch den Chef des
       Landesamtes für Verfassungsschutz, Roland Desch, und Innenminister Boris
       Rhein, mit Beiträgen von vier Wissenschaftlern, darunter von mir. Gegangen
       wäre es wohl hauptsächlich darum, ob die aktuelle Krise kommunistische
       Positionen und Bewegungen wieder attraktiv machen könnte. Und wohl auch
       darum, warum das bisher nicht wirklich der Fall war.
       
       Als vor einigen Monaten die Einladung an mich ergangen war, hatte ich
       vorsichtshalber nachgefragt, ob man meine grundsätzliche Kritik am
       Verfassungsschutzes kenne - und zwar nicht nur, wo er seine Aufgaben nicht
       erfüllt, sondern gerade auch dort, wo er sie erfüllt. Will sagen: Einen
       Geheimdienst, der die Verfassung zu schützen vorgibt, indem er ihre
       Kritiker und Gegner "beobachtet", gibt es nirgendwo sonst, überflüssig ist
       er auch im postfaschistischen und postkommunistischen Deutschland und
       irgendwie - selbst verfassungswidrig. (Ausgeführt in: "Republikschutz.
       Maßstäbe für die Verteidigung der Demokratie", Rowohlt 1995).
       
       ## Verfassungswidrige Behörde
       
       Ja, das wisse man, lautete die Antwort, gerade deswegen sollte ich ja
       kommen. Betonen wollte ich dann ferner, dass mir persönlich kommunistische
       Positionen zwar fernliegen, ich gleichwohl ein entschiedener und
       langjähriger Kritiker des durchgedrehten Finanzkapitalismus bin. Ja, das
       sei auch recht.
       
       Von den thüringischen Verhältnissen wussten damals nur Eingeweihte, auch
       von den hessischen nur wenige. Über die wäre natürlich zu reden gewesen.
       Bis heute ist nämlich unklar, was der V-Mann "kleiner Adolf" in dem
       Internetlokal in Kassel zu suchen hatte, in welchem der 21-jährige Halit
       Yozgat von dem Zwickauer Mördertrio kaltblütig exekutiert wurde. War er
       noch anwesend und eingeweiht, wäre das der Super-GAU des
       Verfassungsschutzes; könnte er nichts zur Aufklärung beitragen, nicht
       minder.
       
       Der Kasseler Fall zeigt exemplarisch das zwischen kolossaler Wichtigtuerei
       und unfassbarer Komplizenschaft pendelnde Unwesen der V-Leute, das ja
       keineswegs auf die extreme Rechte begrenzt war. V-Mann Peter Urban hatte
       sich in den 1960er Jahren als Agent Provocateur in der linken Szene
       Westberlins getummelt und dort Gewaltakte angestiftet; wenn er, worauf
       Indizien hindeuten, zugleich für die Stasi gearbeitet haben sollte,
       potenziert das nur den Geheimdienst-Irrwitz.
       
       Die Verbandelung des RAF-Mitglieds Verena Becker liegt weiterhin im
       Dunkeln, und man möchte auch gerne wissen, welche Straftaten im autonomen
       Milieu durch V-Leute angestachelt worden sind, und wie der
       Verfassungsschwur gemeint ist, den Familienministerin Schröder Linken im
       Kampf gegen rechts abverlangt.
       
       Und man wüsste endlich auch genauer, was der damalige Innenminister und
       heutige Ministerpräsident Volker Bouffier mit der Polizeiaktion gegen den
       lästigen Umweltaktivisten Jörg Bergstedt zu tun hatte (und dieser wiederum
       mit dem Verfassungsschutz)? Viel Stoff für die Debatte also.
       
       ## Viele ernst blickende Männer
       
       Bei den erwähnten Herbstgesprächen, das lässt sich auf den Webseiten des
       hessischen Verfassungsschutzes nachverfolgen, sitzen meistens ernst
       blickende Herren auf dem Podium und betrachten vermeintliche
       Verfassungsfeinde in strenger Rechts-links-Symmetrie.Dieser Antiextremismus
       pflegt das Weimar-Syndrom der frühen Bundesrepublik und verschafft einem
       Geheimdienst Legitimation, dessen Indolenz nun sogar einem Hardliner wie
       Wolfgang Bosbach (CDU) den Kragen platzen lässt.
       
       Echter Republikschutz muss sich auf die Prävention und Ahndung politischer
       Gewalt beschränken und selbstverständlich auch die Meinungsfreiheit von
       Anhängern der Diktatur des Proletariats schützen. Einer stabilen Demokratie
       können weder eine Kommunistische Plattform noch ein schwarzer Block viel
       anhaben, auch Nostalgiker des "Dritten Reiches" genießen Meinungsfreiheit,
       solange sie nicht zu Gewalt und Volksverhetzung aufrufen oder beides aktiv
       betreiben.
       
       Wer sich in die Ahnenreihe von Marx bis Stalin oder Mao einreiht, hat das
       selbst zu verantworten, doch eine ungehinderte Debatte über
       genossenschaftliche Alternativen zum real existierenden Kapitalismus ist
       aktueller denn je.
       
       ## Routiniert diskussionsunwillig
       
       Das auszuführen, ist mir, wie gesagt, nicht vergönnt. "Im Lichte der
       aktuellen Ereignisse und der öffentlichen Diskussion" ließen die
       Veranstalter das Herbstgespräch in diesem Jahr ausfallen. "Zu einer Zeit,
       in der wir mit aller Kraft unseren Beitrag dazu leisten, eine Mordserie mit
       zehn Toten aufzuklären und die wichtige Arbeit der Ermittlungsbehörden
       unterstützen, wäre eine ausführliche Fachdiskussion mit anschließendem
       Empfang aus unserer Sicht nicht angebracht." Ach so?
       
       Verständnis habe ich dafür, dass eine Debatte über die putative
       Gefährlichkeit von, sagen wir: Sahra Wagenknecht in diesen Tagen
       deplatziert wirkt. Den Sektempfang hätte man gewiss streichen können, aber
       eine Fachdiskussion über Anlage und Versagen unserer
       "Extremistenbekämpfung" ist wichtiger denn je.
       
       Das öffentliche Gespräch entfällt, weil Behörden und Politiker erst ihre
       Kommunikationsstrategie sortieren müssen? Spiegelbildlich dann die Reaktion
       der Gegenseite. Die "autonome antifa (f)" rühmt sich in einer
       Presseerklärung, die Veranstaltung sei auf Grund der angekündigten
       Antifa-Demonstration abgesagt worden; die "rechtskonservativen ExpertInnen"
       sollten gar nicht erst zu Wort kommen.
       
       Wenn immer eine Debatte entstehen könnte, wird sie durch Sitzblockaden und
       Trillerpfeifen verhindert? In Wiesbaden hätte man aus der Routine
       ausbrechen und den fälligen Beitrag der Zivilgesellschaft zur Verhinderung
       nationalsozialistischer Gewalt unter Beweis stellen können. Stattdessen:
       Wagenburgen und virtuelle Schützengräben.
       
       30 Nov 2011
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Claus Leggewie
       
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