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       # taz.de -- Nazi-Morde: Jetzt geht die Angst um
       
       > Türkeistämmige BerlinerInnen sind entsetzt über die Enthüllungen über die
       > rechtsextremen Hintergründe des Serienmords an Einwanderern. Das
       > Misstrauen gegenüber den Behörden wächst.
       
   IMG Bild: Auf einer Gedenkveranstaltung für die Opfer der Mordserie am Sonntag Abend.
       
       Sie bekomme Gänsehaut, wenn sie "diesen schrecklichen Begriff ,Dönermorde'
       nur höre", sagt die aus der Türkei stammende Chefin eines Kreuzberger
       Handyshops. "Es sind doch Menschen gewesen, die getötet wurden! Es hätte
       auch uns treffen können." Ihr Mann ergänzt: "Unsere Kinder sind hier
       geboren." Drei Generationen seiner Familie lebten in Berlin, "und man tut
       sein Bestes, um sich hier zu integrieren. Aber es hilft alles nichts. Das
       hört nie auf." Mit "das" meint der türkeistämmige Unternehmer rassistische
       Gewalt gegen in Deutschland lebende EinwanderInnen. Seit die wahren -
       rechtsextremen - Hintergründe einer Serie von Morden an griechischen und
       türkischen Migranten an die Öffentlichkeit kommen, geht unter
       türkeistämmigen Ladenbesitzern in Berlin Angst um. Alle neun Opfer der
       zwischen 2001 und 2006 verübten Morde waren Geschäftsinhaber nichtdeutscher
       Herkunft oder Angestellte solcher Firmen.
       
       Er schaue sich "jetzt immer gut um, wer in der Nähe so herumsteht", wenn er
       abends alleine seinen Laden abschließe, sagt der Lebensmittelhändler Yusuf
       Ö. Bislang glaubte er an die von Ermittlungsbehörden verbreitete Theorie,
       dass die Mordopfer möglicherweise selbst in kriminelle Strukturen
       verwickelt waren. Doch nun zeige sich, dass sie allein aufgrund ihrer
       Herkunft zu Opfern wurden, so Ö. Seit er das wisse, habe er Angst.
       
       Deshalb will auch niemand seinen Namen oder die Adresse seines Ladens in
       der Zeitung lesen: Sie habe schon immer "Angst vor Nazis" gehabt, sagt eine
       türkeistämmige Verkäuferin von Hochzeitskleidern. "Aber jetzt ist es noch
       viel schlimmer." Ihren Namen will auch sie nicht sagen, aber: "Danke, dass
       Sie über das Thema berichten."
       
       Remzi Kaplan, Vorsitzender des Türkisch-Deutschen Unternehmerverbandes in
       Berlin (TDU) und selbst Dönerhersteller, weiß um diese Ängste. Noch am
       Montagabend wollten die TDU-Mitglieder zusammenkommen, um zu besprechen,
       wie sie auf die neuen Erkenntnisse reagieren werden: "Vermutlich werden wir
       zu einer Demonstration aufrufen, zu der wir auch die Politiker einladen",
       so Kaplan. Denn auch wenn keiner der Morde in Berlin begangen wurde: "Alle
       Opfer der Serienmorde waren Unternehmer, teils aus der Dönerbranche,
       deshalb müssen wir reagieren", so Kaplan. Und auch er sagt: "Das hätte auch
       hier passieren können."
       
       Er sei "eigentlich ein besonnener Mensch", sagt Kenan Kolat, Vorsitzender
       der Türkischen Gemeinde Deutschland mit Sitz in Berlin. Aber seit Freitag,
       als die neuen Fakten öffentlich wurden, könne er nicht mehr ruhig schlafen.
       "In meinen Träumen erlebe ich die Anschläge von Solingen und Mölln noch
       einmal." Bei diesen ebenfalls von Rechtsextremen verübten Brandanschlägen
       auf von Türkeistämmigen bewohnte Häuser waren 1992 und 1993 acht Menschen
       getötet und weitere schwer verletzt worden. "Schockiert" sei er über die
       neuen Erkenntnisse, die auf ein rechtsextremes Terrornetzwerk hinter den
       Morden hinweisen, aber auch "enttäuscht", so Kolat: "Ich dachte, wir wären
       bei der Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus in dieser
       Gesellschaft auf einem guten Weg." Dass es solche Nazi-Strukturen gebe, sei
       unfassbar. Die Bundesregierung, die gerade wieder Gelder für
       Antidiskriminierungsprojekte gekürzt habe, müsse ihre "Ignoranz gegenüber
       der Problematik" aufgeben, fordert er. "Ich werde der Bundeskanzlerin
       vorschlagen, mit mir gemeinsam die Familien der Mordopfer zu besuchen."
       
       Ahmet Külahci, Leiter des Berliner Büros der türkischen Tageszeitung
       Hürriyet, sagt, auch die türkischsprachigen Medien hätten sich von "der
       falschen Fährte, die die Behörden gelegt haben, in die Irre führen lassen".
       Deutsche und türkische Medien müssten diesbezüglich "Selbstkritik üben".
       "Wir haben nicht die richtigen Fragen gestellt." Den Grund dafür sieht
       Külahci darin, dass keiner rechtsextremen Terror in diesem Ausmaß für
       möglich gehalten habe: "Ich habe nicht daran glauben wollen, dass so etwas
       möglich ist."
       
       Die Hoffnung, dass nun vollständig aufgeklärt werde, wieso die Täter so
       lange unentdeckt bleiben konnten, will der türkische Journalist nicht
       aufgeben - auch nicht den Glauben daran, dass dies nichts mit der Herkunft
       der Opfer zu tun haben könne: "In einem demokratischen Rechtsstaat verhält
       man sich so nicht." Doch es bestehe bei vielen Menschen Bedenken: "Wenn
       Geheimdienste und Rechtsextreme tatsächlich zusammengearbeitet haben
       sollten, wird nicht alles ans Licht kommen", befürchtet auch Külahci.
       
       Händler Ö. dagegen hat sein Vertrauen in die Behörden verloren: Die hätten
       die Ermittlungsarbeit in den "Ausländermorden" nicht ernst genug genommen,
       vermutet er. Aber dass die Täter möglicherweise von Behördenmitarbeitern
       gedeckt worden seien, mag er lieber nicht für möglich halten: "Schon der
       Gedanke macht Angst."
       
       14 Nov 2011
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Alke Wierth
       
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