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       # taz.de -- Debatte europäische Solidarität: Helfen? Den Pleitegriechen?
       
       > Heftig wird eine gesamteuropäische Solidarität beschworen. Aber viele
       > Bürger wollen davon nichts mehr hören. Ist Solidarität einfach out?
       
   IMG Bild: Vom Nationalen nicht immer freundlich umweht: Europa.
       
       Unter den Argumenten, die im Zusammenhang mit Schuldenkrise und Eurorettung
       vorgebracht werden, verfängt eines immer weniger: Dass Hilfen,
       Kredittranchen, Bürgschaften und Schuldenerlass für die Griechen ein „Akt
       europäischer Solidarität“ seien.
       
       Der Boulevard trommelt, die „faulen“ Pleitegriechen hätten das nicht
       verdient. Die Populisten rufen: „unser Geld für unsere Leute“, und die
       normalen Bürger murmeln: „Warum soll ich denen helfen, mir hilft ja auch
       keiner?“ Ist also „Solidarität“ eine nichtssagende Kategorie geworden?
       
       „Solidarität“ setzt sich nicht zufällig von Nächstenliebe und Mildtätigkeit
       ab. Im Wort Solidarität schwingt immer schon mit, dass sie nicht nur für
       den nützlich ist, der den Akt der Solidarität empfängt, sondern auch für
       den, der diesen setzt. Solidarität hat immer mehr mit dem zu tun, was man
       den „wohlverstandenen Eigennutz“ (Alexis de Tocqueville) nennen kann.
       
       Dies wird sonnenklar, wenn man bedenkt, dass oft nicht einmal
       unterscheidbar ist, wer eigentlich der Sender und wer der Adressat von
       Solidarität ist, dass also Menschen solidarisch handeln können, in einem
       Sinne, dass alle zugleich Sender und Empfänger von Solidarität sind. Indem
       Arbeiter sich in Interessenvereinigungen zusammenschließen, üben sie
       Solidarität aktiv aus und sind zeitgleich ihre Nutznießer.
       
       ## Verschiedene Formen von Solidarität
       
       Neben dieser horizontalen Solidarität - Solidarität mit deines- und
       meinesgleichen -, von der alle zum gleichen Zeitpunkt profitieren, gibt es
       noch die verwandte Solidarität, wo zwar nicht alle gleichzeitig Nutznießer
       der Solidarität sind, aber alle potenziell irgendwann werden können: Indem
       ich in die Arbeitslosenversicherung einbezahle, helfe ich anderen, die in
       einer Notlage sind, in die auch ich geraten kann. Weil sie sich darauf
       verlassen können, dass man sie nicht ins Bodenlose fallen lässt, kann auch
       ich mich darauf verlassen, im Ernstfall genau dasselbe beanspruchen zu
       können.
       
       Es kann aber auch eine andere Form von Solidarität geben, die eine
       vertikale Solidarität ist: Der Wohlfahrtsstaat organisiert eine Form der
       Solidarität, die man am besten mit „Gemeinwohlorientierung“ beschreibt, wo
       der Wohlhabende abgibt. Aber auch hier appelliert man nicht an seinen
       Altruismus und an sein Gewissen, sondern an seine Einsicht, dass seine
       Wohlfahrt sicherer ist, wenn andere auch etwas haben.
       
       Sei es, weil die Wirtschaft besser funktioniert, wenn alle aus ihrem Leben
       etwas machen können und nicht nur ein paar Reiche allen Reichtum
       konzentrieren, sei es, weil es sich in einer funktionierenden Gesellschaft
       besser leben lässt, oder sei es bloß, weil man auch als Wohlhabender weiß,
       dass es angenehm ist, wenn man abends durch den Park gehen kann, ohne dass
       die Gefahr allzu groß ist, von einem Hungerleider ausgeraubt oder gar
       ermordet zu werden.
       
       ## Wohlverstandes Eigeninteresse
       
       Was hat all das nun mit der Griechenlandkrise zu tun? Viel: Ein Bankrott
       der Griechen kann uns allen schaden, und etwas abzugeben, um diesen
       Bankrott zu verhindern, kann uns allen nützen. Prinzipiell und systematisch
       gedacht ist das ja keine Frage.
       
       Aber gerade weil „Solidarität“ nicht so sehr eine Gewissenskategorie ist,
       sondern eine des wechselseitigen Nutzens, kommen sofort weitere Fragen ins
       Spiel. Etwa: Ist die konkrete Form, in der „Solidarität“ geübt wird,
       überhaupt effektiv, vermag sie diesen Nutzen, den sie verspricht, überhaupt
       herzustellen? Ist sie effizient, also: Kann derselbe Nutzen womöglich mit
       weniger Mitteln erzielt werden?
       
       Das Problem mit der Eurokrise ist, dass das, was wir von den Experten
       hören, widersprüchlich ist. Winston Churchill meinte einmal ironisch, „wenn
       ich fünf Ökonomen um ihre Meinung bitte, erhalte ich sechs widersprechende
       Ratschläge, und zwei davon sind von Keynes.“
       
       So ähnlich ist das jetzt auch: Ein Staatsbankrott wäre für die Griechen
       schrecklich. Aber wäre er wirklich schrecklicher als zehn Jahre
       kaputtsparen, nur um - und das ist das Ziel des jetzigen Rettungspakts! -
       im Jahr 2020 bei einem Staatsschuldenstand von 120 Prozent des BIP zu
       landen? - als „Lender of Last Resort“
       
       Wenn Griechenland bankrottgeht, werden die Banken zusammenbrechen, wir
       müssen sie mit Milliarden rekapitalisieren, wird uns gesagt. Ist das wahr?
       Oder nur eine Behauptung aus Bankerkreisen? Und vor allem: Wäre all das
       nicht billiger und weniger schmerzhaft zu haben, indem die Europäische
       Zentralbank tatsächlich garantiert - wie die amerikanische Fed oder die
       britische Zentralbank für ihre Länder -, dass kein Euromitgliedsland
       bankrottgehen kann? Indem sie versichert, im Notfall einfach Geld zu
       drucken. Dann würden die Zinsen auf Staatsanleihen der Hochschuldenländer
       nämlich schnell fallen. All diese Fragen spielen eine Rolle, wenn
       Solidarität ein Handeln aus wohlverstandenem, was auch heißt: aufgeklärtem,
       also informiertem Eigeninteresse ist.
       
       ## Gefühle im Fernbereich
       
       Aber noch etwas ist wichtig: Solidarität ist nicht nur eine Form
       aufgeklärten Handelns, Solidarität ist, das lehrt uns die Geschichte, schon
       auch ein moralisches Gefühl. Das, was uns das aufgeklärte Eigeninteresse
       nahelegen sollte, lässt sich im Nahbereich leichter üben als über tausende
       Kilometer hinweg. In einer komplexen Welt, in einer globalen Ökonomie und
       noch dazu in einer Währungsunion bin ich mit einem Portugiesen oder
       Griechen nicht weniger verbunden, als, sagen wir: ein Bremer mit einem
       Bayern.
       
       Aber das emotionale Empfinden der meisten Menschen ist natürlich ein
       anderes. Solidarität wächst aus lokalen Gemeinschaften, erweitert ihre
       Kreise, und das Verdienst des Nationalstaats war (neben allerlei
       Abscheulichkeiten), dass er ein Gemeinschaftsgefühl stiftete, von dem
       Jürgen Habermas einst schrieb: „Angehörige derselben Nationen fühlen sich,
       obwohl sie Fremde füreinander sind und bleiben, soweit füreinander
       verantwortlich, dass sie zu ,Opfern‘ bereit sind.“
       
       Das Drama ist also: Wir sind mit anderen eng verbunden, ihr Nutzen ist
       unser Nutzen und ihr Schaden der unsere, aber „gesamteuropäische
       Solidarität“ kann nicht auf die emotionalen Ressourcen zurückgreifen, die
       im Nahbereich selbstverständlich sind.
       
       11 Nov 2011
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Robert Misik
       
       ## TAGS
       
   DIR Griechenland
       
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