URI: 
       # taz.de -- Deutscher Großkünstler in Tel Aviv: Unser Kiefer
       
       > Eine große Anselm-Kiefer-Schau weiht den Erweiterungsbau des Kunstmuseums
       > Tel Aviv ein. Sie scheint die Rückkehr des Malers nach Deutschland zu
       > markieren.
       
   IMG Bild: Ausschnitt von Kiefers Kunstwerk: "Als Arche verließ es die Strasse so wardst du gerettet ins Unheil", 2005
       
       Als Anselm Kiefer ein Kind war, tötete er die Hühner auf dem Hof seiner
       Eltern. "Wir waren Bauern und haben mühsam unseren Lebensunterhalt
       verdient, und sie haben das Gemüse gepickt und beschädigt", erzählte Kiefer
       unlängst der israelischen Tageszeitung Haaretz. "Als ich sie umgebracht
       habe, dachte ich, das sei gerechtfertigt. Aber danach, als ich auf das Feld
       voller Kadaver sah, fühlte ich eine große Scham. Ich hatte Abscheu vor mir
       selbst, es war unerträglich. Aber warum hatte ich das getan? Weil ich es
       konnte. Nicht nur hat es kein Halten gegeben, sondern sogar Gründe dafür."
       
       Begreift man diese Geschichte als Gleichnis und ersetzt das Wort Hühner
       durch Juden, so erhält man die vielleicht wahrhaftigste Antwort auf eine
       der wichtigsten Fragen des 20. Jahrhunderts: Warum haben die Deutschen die
       Juden ermordet? Kiefers unheimliches Geständnis lässt sich vielleicht nur
       zufällig in diesem Sinne lesen, auch wenn der Künstler zweifellos ein
       Meister kalkulierter Äußerungen ist. In jedem Fall lässt sich seine
       Erinnerung als weiteres Echo der universellen menschlichen Hybris,
       Verzweiflung und Schuld verstehen, die Kiefers in jeder Hinsicht enorme
       künstlerische Produktion erklärtermaßen antreibt.
       
       Bekannt wurde der Künstler 1968 mit der Arbeit "Besatzungen", einer Serie
       von Fotos, die den Kompositionsregeln romantischer Gemälde folgen. Man kann
       auf ihnen Kiefer sehen, wie er den "deutschen Gruß" entbietet.
       
       ## Anmutung eines Tempels
       
       Am vergangenen Wochenende feierte das Kunstmuseum in Tel Aviv die Eröffnung
       seines neuen Anbaus mit einer spektakulären Kiefer-Ausstellung. In Israel
       hat man einen derartigen medialen Aufruhr anlässlich eines Kunstereignisses
       noch nicht erlebt. Dutzende Journalisten, Sammler, Sponsoren und Kuratoren
       aus der ganzen Welt waren vom israelischen Außenministerium eingeladen
       worden. Bei der Eröffnung von Haus und Schau hielt Kiefer einen Vortrag,
       der einer Bar-Mitzwah-Rede glich.
       
       "Shvirat Ha-Kelim" ist der Titel der Ausstellung und bezeichnet zugleich
       eine Installation in der Hauptgalerie des neuen Gebäudes, gebaut von
       Harvard-Professor Preston Scott Cohen. Die unterirdisch gelegene
       Hauptgalerie korrespondiert mit dem gegenüberliegenden Bunker der
       israelischen Armee, der im Volksmund "die Grube" genannt wird.
       
       Kiefer versteht es selbstbewusst, den 900 Quadratmeter großen Raum mit
       seinen sieben Meter hohen Decken zu besetzen. Mit seinen Arbeiten erhält
       der Neubau die Anmutung eines Tempels. Kiefer hat darin zwei "Häuser"
       aufgestellt. In einem der beiden wird "Shvirat Ha-Kelim" gezeigt. Die
       Arbeit besteht aus einem Regal voller grauer Bücher aus Blei, auf dem Boden
       liegt zerbrochenes Glas.
       
       ## Wiederaneignung der Romantik
       
       Kiefer, im März 1945 geboren, stellt zum zweiten Mal in Israel aus. 1983
       war er ins Jerusalemer Israel Museum eingeladen worden. "Shvirat Ha-Kelim"
       ist Kiefers zentrale Arbeit in seiner Auseinandersetzung mit der jüdischen
       Kabbala, die bereits seit drei Jahrzehnten andauert. "Shvirat Ha-Kelim"
       bedeutet "Bruch der Gefäße". Gemäß der Kabbala enthielten zehn Gefäße das
       göttliche Licht, das nach der Erschaffung der Welt übrig geblieben war.
       Doch sie konnten es nicht halten und zerbrachen, die Welt ist seither vom
       Chaos bedroht. Die kaputte Welt kann nur durch "Tikkun" repariert und
       geheilt werden: Die Aufgabe des Menschen besteht darin, Gutes zu tun.
       
       Von Anfang an galt Anselm Kiefer als einer der herausragendsten Schüler von
       Joseph Beuys. Dieser hatte nach dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes beinahe
       allein die deutsche Kunstszene wiederbelebt und seine Kunst als Akt der
       Therapie verstanden. Bei der Documenta 7 im Jahr 1982, in deren Verlauf
       Beuys seine klassische Ökoarbeit verwirklichte, als er in Kassel 7.000
       Eichen pflanzte, hatte Kiefer einen seiner ersten internationalen
       Auftritte. Er stellte großformatige Bilder aus, die christliche Symbole,
       mythologische Figuren der deutschen Geschichte und monumentale
       Architekturen in ruinösem Zustand zeigten.
       
       Kiefers monumentale Landschaftsmalereien in Braun, Grau und Schwarz und
       ihren Zwischentönen bestanden aus Schichten von Erde, Stroh, Sand, Blei,
       Glas, Kinderkleidung, Haaren, Bohnen, Erbsen, Zähnen, Möbeln. Es schien,
       als wolle er die Romantik wiederbeleben, die von den Nationalsozialisten
       besetzt und missbraucht worden war.
       
       Zeitgenössische Kritiker sahen ihn zusammen mit Georg Baselitz und Hans
       Jürgen Syberberg anknüpfen an Traditionen, die über den deutschen
       Expressionismus, das Wagnersche Pathos, die Ästhetik der Romantik bis zum
       Begriff des Erhabenen in der Natur zurückreichten.
       
       ## Kein Liebling der Kritiker
       
       Im März 1991 schrieb Eduard Beaucamp, der damalige Kunstkritiker der
       Frankfurter Allgemeinen Zeitung, einen heftigen Verriss über die
       Kiefer-Retrospektive in der Neuen Nationalgalerie in Berlin. Was als
       triumphaler Empfang im Herzen des neuen, alten Berlin gedacht war, endete
       als Fiasko. Beaucamp warf Kiefer vor, der Symbolismus des 19. Jahrhunderts
       vergewaltige in seinem Werk die Bildwelt der Moderne. "Er ist kein
       Mystiker, sondern ein Mystagoge, kein Fundamentalist, auch kein Hermetiker,
       sondern ein ausschweifender Romantiker."
       
       Beaucamp lobte die ästhetische Schlüssigkeit mancher Arbeiten Kiefers, die
       allerdings durch "Orgien des Kitschs" wieder infrage gestellt würden.
       Kiefer schaffe "das perfekte Bühnenbild, die totale Raumkulisse". Beaucamps
       Artikel "Der Prophet und sein Bildertheater" bezog sich unter anderem auf
       die israelische Kuratorin Doreet LeVitte-Harten, die Kiefer zum Künstler
       krönte, der zum (jüdischen) Propheten und (christlichen) Erlöser zugleich
       wird. Kiefers Übervater Joseph Beuys hatte sich mit Letzterem zufrieden
       gegeben.
       
       Der zweite monumentale Raum in Kiefers aktueller Ausstellung ist Goethes
       Gedichten aus dem "West-Östlichen Diwan" gewidmet. Es besteht aus 54 großen
       Panelen, die auf zwei gegenüberliegenden Wänden in jeweils drei Reihen
       angebracht sind. Sie folgen der typischen Herangehensweise Kiefers,
       poetische Verfahren wie die Metapher auf Bilder und Skulpturen anzuwenden.
       Die Panele geben sich als rostige Landschaftsmalerei und bestehen aus dem
       bekannten Vokabular: getrocknete Blumen, Dornen, Farne voller Harz,
       getrocknete Erde, Öl und Blei. Auf die Stirnwand hat Kiefer die Namen
       muslimischer und jüdischer Philosophen geschrieben. Auch die anderen Werke
       hat Kiefer mit lateinischer Schreibschrift dekoriert und betitelt. Da gibt
       es etwa einen Berg voller Bücher, an der Wand steht: "Ararat".
       
       Der Verriss Beaucamps kam zu einem Zeitpunkt, als Kiefers Erfolg bei
       Publikum, Sammlern und Museen am größten war. Bald darauf verließ Kiefer
       Deutschland und ging nach Frankreich. Beaucamp war in seiner Kritik an
       Kiefer nicht allein. Der deutsch-amerikanische Kritiker Benjamin Buchloh
       favorisierte Anselm Kiefers Gegenpol: Gerhard Richter. Buchloh bekämpfte
       Kiefer von Anfang an als billigen Repräsentanten einer neokonservativen
       Bewegung, die nach der Krise der Avantgarde um die Gunst von Publikum und
       Markt buhlte.
       
       Buchloh sah Kiefers Kunst beinahe als faschistisch an, weil sie absolute
       Behauptungen aufstelle und dabei gänzlich unironisch sei. Während die linke
       Nachkriegsintelligenz von ihrer Angst vor dem künstlerischen Genius, dem
       Mystischen und dem poetischen Intellekt paralysiert war, insistierte Kiefer
       darauf, die Dämonen auszutreiben und den deutschen Genius wiederzufinden.
       
       ## Kiefer bekräftigt Aura der Kunst
       
       ## 
       
       Er habe sich nie dafür interessiert, einen neuen Stil oder eine neue
       Sprache der Kunst zu finden, sagte Kiefer kürzlich anlässlich einer
       Ausstellung in London. "Ich male, um etwas über mich herauszufinden". Im
       Unterschied zu den amerikanischen Malereikünstlern oder einem Gerhard
       Richter, dem wichtigsten Künstler der letzten Dekaden, zweifelt Kiefer
       nicht an der Authentizität von Bildern. Er bekräftigt die Existenz einer
       Aura, die dem originalen Kunstobjekt zugeschrieben wurde.
       
       In Tel Aviv bevölkern fünf Skulpturen von hohlen, lebensgroßen
       Frauenkleidern den Raum zwischen den Kieferschen "Häusern". Jede der Frauen
       hat einen symbolischen Kopfersatz: ein Planetensystem, eine geometrische
       Form, ein weißer Bücherstapel, übereinandergeschichtete Ziegelsteine, und
       die unvermeidliche Repräsentation des kabbalistischen Lebensbaums. Diese
       Arbeit, die im Raum überzeugender ist als auf den Fotos, die derzeit von
       ihr zirkulieren, treffen sich Kiefers schöpferische Ambition, dem Material
       Leben einzuhauchen, mit überdeutlichen, illustrativ eingesetzten Symbolen.
       Diese Frauen scheinen einem Theaterfundus zu entstammen
       
       Die Verwirrung, die Kiefers Ausstellung beim Betrachter auslöst, gründet
       sich in der Unmöglichkeit, diese Kunst einfach von sich zu weisen, in
       Distanz zu bringen. Wer vor einem Gemälde wie "Noah" steht, 280 mal 560
       Zentimeter groß, sieht sich einer monumental-nebligen romantischen
       Landschaft aus Blei, Schellack, Ölfarbe und Acryl gegenüber. Dem Bild
       gelingt es, seinen Betrachter zu überwältigen in einer Art und Weise, wie
       sie einem Gemälde von Caspar David Friedrich oder einem Film von Steven
       Spielberg eigen ist.
       
       Zwei Jahrzehnte nach seiner Umsiedlung nach Frankreich findet Kiefer mit
       spektakulären Ideen auch den Weg in die deutsche Öffentlichkeit. In einem
       Werkstattgespräch für den Spiegel unterhält er sich mit seinem Freund, dem
       Springer-Manager Mathias Döpfner. Er erklärt, dass er den Kühlturm des
       stillgelegten Atomkraftwerks Mülheim-Kärlich am Rhein kaufen möchte. Wenn
       es ginge, sogar das ganze Kraftwerk inklusive Kuppel. Kiefers zweite
       israelische Ausstellung scheint seine Rückkehr nach Deutschland zu
       markieren.
       
       6 Nov 2011
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Tal Sterngast
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Anselm-Kiefer-Retrospektive in London: Lebenslang Nachkriegskünstler
       
       Die Ästhetik der Zerstörung hat Anselm Kiefer nie losgelassen. Die Royal
       Academy of Art in London widmet ihm eine große Retrospektive.
       
   DIR Film zum Werk Anselm Kiefers: In Tiefe schwelgen
       
       In ihrem Film "Over Your Cities Grass Will Grow" besucht Sophie Fiennes den
       Künstler Anselm Kiefer in Südfrankreich und verfällt seinem Wahnwitz.